Lesen lernen

Mir scheint, dass mein Glaube an Gott wie ein Buch ist, durch das ich mich ein Leben lang «hindurchbuchstabieren» muss, und ich lese es in kleinen Schritten. Manchmal gibt es Aha-Erlebnisse, bei denen ich ein vertrautes Wort schnell erkenne oder ein neues sofort erfasse; meistens geht es langsam, und lange Sätze oder gar Absätze verstehe ich nur im Rückblick. Erst am Ende meines Lebens wird das Buch fertiggelesen sein.
Um mein Glaubensbuch verstehen zu können muss ich, wie bei allen Büchern, auf Lebenserfahrungen zurückgreifen. Manche der Lebenserfahrungen sind Schnittstellen zwischen meinem Glaubensbuch und meinem Leben. Dann sehe ich hinter meinem Lebenstext Leuchtbuchstaben, die Gott geschrieben hat.

Bild von form auf pxhere

Das ist abstrakt und deshalb will ich Ihnen eine Seite aus meinem Glaubensbuch vorlesen: Wir haben drei erwachsene Kinder. Unsere Töchter sind ausgezogen und unser Sohn arbeitet den ganzen Tag. Ich weiss, dass meine Kinder mich lieben, auch wenn ich sie nicht dauernd um mich habe. Manchmal telefonieren wir, manchmal gibt es Einladungen und bei Festen sitzen wir wieder alle um einen Tisch.
Neulich war ich mit dem Fahrrad auf dem Heimweg von der Arbeit. Kurz vor einer Unterführung habe ich ein vertrautes Pfeifen gehört. Unser Sohn stand oben und hat mir lachend zugewinkt. Die kurze Begegnung war ein Glücksmoment. Ich erkenne Gottes Handschrift in den Kindern, die er mir geschenkt hat. Umgekehrt begreife ich, dass es mit Gott ist, wie mit meinen Kindern: Manche Kontakte sind gesucht und geplant und manchmal ist es, als ob Gott unerwartet von einer Brücke winkt: Huhu, ich bin da, ich sehe Dich! Das ist der göttliche Leuchttext hinter der Begegnung mit meinem Sohn!