Lob des Nichtwissens

Vom griechischen Philosophen Sokrates ist eine Selbstaussage überliefert, die zum geflügelten Wort wurde: «Ich weiss, dass ich nichts weiss.» Er soll dies am Ende seines Lebens ausgesprochen haben, als er bereits zum Tode verurteilt worden war. Sokrates war ein Denker, der diese Einstellung ein Leben lang kultiviert hatte. Gerne stand er auf dem Marktplatz und befragte die Leute über alles Mögliche, zum Beispiel: «Was ist Gerechtigkeit?» Die Antworten nahm er jeweils genau unter die Lupe, deckte Unstimmigkeiten auf und verwickelte die Leute in längere Unterhaltungen, die zuerst Ratlosigkeit, dann Neugier und schliesslich neue Erkenntnisse hervorbrachten.

Vor längerer Zeit entdeckte ich im Zusammenhang mit dem Wissen eine erhellende Grafik, die mich seither begleitet. Sie besteht aus einem Kreis, der in drei unterschiedlich grosse Sektoren aufgeteilt ist. Ein ganz schmaler Spickel trägt die Bezeichnung «Dinge, von denen ich weiss, dass ich sie weiss», ein zweiter etwas grösserer heisst «Dinge, von denen ich weiss, dass ich sie nicht weiss». Der ganze riesige Rest ist betitelt mit «Dinge, von denen ich nicht weiss, dass ich sie nicht weiss».

Die Grafik offenbarte mir mit einem Schlag die Überheblichkeit, mit der eigenes Wissen oft beurteilt wird. Dabei habe ich von den allermeisten Phänomenen der Welt und des Universums noch nicht mal eine Ahnung. Es wird mich zu neuen Erkenntnissen führen, wenn ich ohne vorgefertigte Meinungen auf die Dinge zugehe und sie betrachte, als sähe ich sie zum ersten Mal. Dazu braucht es die Bereitschaft, Altes zu «verlernen» und mich dem Nichtwissen zu stellen. Wissenschaftliche Erkenntnisse wurden durch diese Blickweise möglich. Im Bereich des Religiösen wird diese Haltung «Mystik» genannt. Sie bewahrt davor, selbstgerecht oder fanatisch zu werden und lässt uns dem Göttlichen wieder ganz neu als einem grossen Geheimnis begegnen.