Lob vor dem Abend

Haben Sie sich schon einmal richtig über einen schönen Moment, ein Ereignis oder eine tolle Sache gefreut, bis ihnen jemand gesagt hat: «Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben!»? Manchmal genügt doch schon ein einziger Satz, und die Freude ist verpufft.

Klar, hinter Sprichwörtern wie diesem stehen die gesammelten Lebenserfahrungen vieler Menschen. Etliche hatten sich womöglich schon einmal «zu früh» gefreut und danach mit einer Enttäuschung klarkommen müssen, so dass diese unangenehme Erfahrung in ein Sprichwort geflossen ist.

Quelle: pixabay

Ich finde jedoch, dass dieser Spruch aus unserem alltäglichen Sprachgebrauch verschwinden sollte, da er etwas unglaublich Destruktives an sich hat. Immer – selbst in den schönsten Momenten – damit zu rechnen, dass noch etwas Negatives passieren könnte, sorgt dafür, dass wir Menschen nicht im Hier und Jetzt sind und das Vertrauen ins Leben verlieren.

Mir gefallen die Gedanken, die sich der grosse Theologe Karl Rahner zum Lob vor dem Abend gemacht hat. Er schrieb: „Lob den Tag schon vor dem Abend. Dann empfängst du ihn nicht mit Misstrauen und Vorsicht, sondern mit dem Lob des Vertrauens, der Zuversicht, dann wird der Tag so, dass du ihn am Abend mit Recht loben kannst. Dann geschieht es auch mit dem Tag, wie es bei Menschen, oder wenigstens bei Kindern geht: sie werden das, wofür man sie hält.“ (Karl Rahner, Sehnsucht nach dem geheimnisvollen Gott)