Marias Weitblick
Eng mit dem Weihnachtsgeschehen verbunden ist eine Begebenheit, die ebenfalls zu Beginn des Lukasevangeliums erzählt wird: Die schwangere Maria besucht ihre ältere Cousine Elisabeth, die wie sie ein Kind erwartet. Die Begegnung mündet in einen Lobgesang, den Maria anstimmt, und der seinen Namen vom lateinischen Wort hat, mit dem er anfängt: Magnificat.
«Meine Seele preist die Grösse des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.» So beginnt Maria ihr Loblied, und sie hat allen Grund dazu. Als Frau, die unverheiratet schwanger wurde, hätte sie in der damaligen patriarchalen Zeit ein schlimmes Schicksal erleiden können. Doch ihr Verlobter Josef stand zu ihr und nahm sie zu sich. So durfte die Freude gegenüber der Sorge überwiegen.
Maria stimmt kein Loblied auf die Familie oder die Vorzüge des Mutterseins an. Sie spannt dem Bogen weit und singt von der ausgleichenden Gerechtigkeit Gottes: «Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.» Sie sieht, was in der herrschenden Gesellschaft unerlöst ist, die Arroganz der Erfolgreichen, die Skrupellosigkeit der Machtvollen und die Knausrigkeit der Besitzenden.
Das Magnificat wird in der christlichen Gebetstradition täglich gebetet, ist Bestandteil der Vesper, des Abendgebets in den Klöstern und Kirchen. Wie sehr wünsche ich mir, dass Christinnen und Christen aller Kirchen Marias Weitblick folgen, sich vom Magnificat bewegen lassen und sich für menschlichere Verhältnisse in den eigenen Reihen und in der Welt einsetzen.