Mehr als alles

«Es muss doch mehr als alles geben.» So lautet der Titel eines Buches der Theologin Dorothee Sölle. Der Satz bringt eine Lebensempfindung auf den Punkt: Die Wirklichkeit dieser Welt kann einen mit tiefer Dankbarkeit erfüllen. Das Leben ist vielfältig und reich an Möglichkeiten. Wir haben «alles». Und doch spüren wir, dass sich unsere Existenz darin nicht erschöpft, dass es «mehr» geben muss. Weil trotzdem so vieles vorläufig und unerfüllt bleibt. Weil Glück enttäuscht wird und Bedürfnisse ungestillt sind.

Dieses Spannungsfeld durchzieht auch die Texte der Bibel. Sie erzählen von der guten Schöpfung Gottes, vom Segen, der sich in reicher Ernte oder hohem Alter zeigt. In der Bibel wird aber genauso über die Realität von Leid, Hunger und Krieg geklagt. Und auch in ihr wird daran festgehalten, dass es mehr geben muss! Der Glaube kennt das Versprechen des Reiches Gottes, eines Zustandes, in dem das Vorläufige und Unerfüllte überwunden werden.

Leben in christlicher Perspektive kann deshalb heissen, das «Alles» der Wirklichkeit anzunehmen und auszukosten und gleichzeitig die Sehnsucht nach diesem «Mehr» wach zu halten.

Die Lyrikerin Hilde Domin hat für diese Gleichzeitigkeit im Gedicht «Auf der andern Seite des Monds» eindrückliche Bilder geschaffen:

Auf der andern Seite des Monds/ gehen/ in goldene Kleider gehüllt/ deine wirklichen Tage/ sie wohnen/ wie sonst du/ in Helle/ verscheucht von hier/ weggescheucht/ wandeln sie dort/ du weißt es sind deine.

Du aber empfängst/ Morgen nach Morgen/ ihre Stellvertreter:/ fremder/ als jedes fremde Land./ Du weißt/ die deinen/ wandeln in Helle/ sie ziehen Tag um Tag/ neben dir her/ nur auf der anderen Seite des Monds.

Foto: Far side of the moon, 2009 – 2011. NASA/GSFC/Arizona State University. Quelle : Wikimedia Commons