Mit den Augen der anderen

Mit freundlicher Genehmigung von Beatrice Herrmann

Einmal am Tag schaue ich mir den Status meiner Bekannten auf WhatsApp an. Ich suche nicht nach Sprüchen oder Filmchen, die Leute posten. Mir gefallen die Fotos, die sie dort einstellen. Mit gefallen meine ich nicht, dass ich die Fotos wegen besonderer Fotoqualitäten schätze. Mir gefällt, dass ich durch die Fotos die Welt ein wenig mit den Augen der anderen Menschen sehe.
«Schau, hier bin ich gerade!» «Schau, hier bin ich gerade glücklich!» «Schau, das ist ein Ort, der mich froh macht.» «Schau, hier habe ich etwas Besonderes entdeckt.» «Schau, ich lasse Dich teilhaben und hoffe, dass du Dich mit mir freust».

Viele meiner Nachbarinnen und Nachbarn posten Fotos von der Natur in unserer Umgebung. Und dann bin ich erstaunt: Sie sind auf den gleichen Wegen unterwegs, die auch ich gehe, und auf ihren Fotos sind ganz andere Dinge zu sehen als die, die ich wahrnehme und fotografiere. Mein Bild von unserer Umgebung wird kompletter. Oder sie sehen das Gleiche, aber die Perspektive ist eine andere. Und dann gibt es noch die Nachbarin, die von ihren Abendrunden, mit Fotos heimkommt, die ausstellungsreif sind. Über Allem, was sie knipst, liegt ein besonderer Glanz. Und da kann ich nur sagen: «Wow! Du zeigst mir, wie schön alles um uns herum ist.» Von mir bekommen alle als Reaktion ein 👍 oder ☺️, denn ich bin mit ihnen in einen modernen Dialog eingetreten.

Ich wende auf diese Erfahrung unorthodox einen bekannten Paulusspruch an: «Prüfet alles, aber das Gute behaltet.»

Die modernen Medien nehmen uns viel Zeit; aber die Möglichkeit, mit den Augen der anderen einen Blick auf die Welt zu tun, ist für mich eine Bereicherung.