Nah dran
Seit meiner Studienzeit pflege ich das Hobby des Fotografierens. Es macht mir Freude, Landschaften, Bauwerke, Menschen oder Tiere aus geeignetem Blickwinkel und in einem guten Licht darzustellen. Besonders faszinieren mich Makroaufnahmen. Mit speziellen Objektiven lassen sich Details zum Vorschein bringen, die mit blossem Auge nicht wahrnehmbar sind. Solche Bilder lassen mich immer wieder staunen. Manchmal, besonders bei Kleinlebewesen, hat ein Makrofoto auch etwas Gruseliges. Doch immer wieder gibt es im Reich des Kleinen ungeahnte Schönheit zu entdecken. Es ist eine neue und eigene Welt, die sich hier auftut.
Inzwischen sind die Jahre nicht spurlos an mir vorübergegangen, und ich nehme wahr, wie meine Beweglichkeit und meine Leistungsfähigkeit abnehmen. Natürlich bedauere ich die Einschränkungen und beklage sie manchmal auch. Ist das der unvermeidliche Lauf der Dinge, dass die zweite Lebenshälfte geprägt ist von Abbau, Reduktion und Verlust?
Erstaunlicherweise hat die Makro-Fotografie eine tröstliche Erkenntnis für mich parat. Wo sich in meinem Leben die Möglichkeiten und der Horizont einschränken, nützt Jammern und Klagen nichts. Die Einengung kann mir sogar etwas geben. Ich kann sie als Einladung verstehen, die mich aufmuntert: Schenke dem Nahen, dem Kleinen und dem Inneren mehr Aufmerksamkeit!
Gewiss wird mich einiges zuerst befremden oder gar erschrecken wie bei den Nahaufnahmen. Je genauer ich meinen Mikrokosmos wahrnehme, umso mehr wird sich mir auch Überraschendes und Schönes zeigen. Mussezeiten, Interesse und Mut zur Nähe sind so etwas wie Makroobjektive: Sie erlauben Einblicke und Entdeckungen in eine Welt jenseits aller Begrenzungen.