• Im Team

    Wir sind eine Familie, in der viel gespielt wird. Kartenspiele, Würfelspiele, Brettspiele stapeln sich gut geordnet in drei Schränken. Freunde, die zu uns kommen, kommen gewöhnlich zu Spielerunden. Ich mag am Spielen das Gemeinsame, das Verbindende, das Lustige und Gesellige. Das gemeinsame Spielen hat aber eine Seite, die mir unangenehm ist. Es gibt beim Spielen Gewinner und Verlierer. Vielleicht ist es für die Verlierer gar nicht so schlimm, aber ich bedauere es immer, wenn jemand, der mit mir am Tisch sitzt, verliert, besonders wenn jemand mehrmals verliert. Zu oft bringt uns Wettbewerb in Stress. Ich sehe es mit Bedauern, wenn Eltern ihre Kinder in die Konkurrenz treiben mit Sätzen wie:…

  • Wer nicht reist, kommt nie an

    Kürzlich bin ich auf ein Werk der norwegisch-nigerianischen Künstlerin Linda Lamignan gestossen. Es trug den Titel „Those who do not travel never arrive: I did not come alone“. Ich blieb am ersten Satz des Titels hängen, der frei übersetzt so lautet: „Wer nicht reist, kommt nie an.“ Genau! Das ist einer der Gründe, weshalb ich das Reisen liebe: unterwegs sein, unbekannte Gegenden kennenlernen, andere Sprachen hören, mich selbst in diesen fremden Zusammenhängen erfahren. Und immer wieder irgendwo ankommen. Müde nach einem langen Flug, und mit der ganzen Unsicherheit: Wie ist das jetzt hier? Wo ist die reservierte Unterkunft? Ist das ein guter Ort? Ich kenne niemanden, ich kann mich hier…

  • Den Opfern eine Stimme geben

    «Wo ist dein Bruder Abel?», fragt Gott Kain, nachdem dieser Abel umgebracht hat. Und als Kain der Frage ausweichen will, doppelt er nach und sagt: «Was hast Du getan? Das Blut deines Bruders erhebt die Stimme und schreit zu mir.» Gott gibt damit dem Opfer von Gewalt eine Stimme, weil das Opfer selbst nichts mehr sagen kann. Er macht seine stummen Schreie hörbar und lässt nicht locker, damit der Täter nicht einfach so weitermachen kann wie bisher. Er fragt nicht nach den Ursachen, die zur Tat geführt haben. Nicht danach, was man vielleicht ändern müsste, damit so etwas nicht mehr vorkommt. Gott fragt zuerst: Wo ist deine Schwester? Wo ist…

  • Standpunktwechsel

    Gleich neben der Bahnhofkirche befindet sich seit kurzer Zeit eine 3D-Installation. Von einem bestimmten Blickwinkel aus sieht die betrachtende Person eine im Raum schwebende und von oben beleuchtete Kugel, die einen Schatten an die Wand wirft, und durch die die Linien der Wand verzerrt hindurchscheinen. Dieser Eindruck ändert sich schlagartig, wenn ich mich frontal vor die Wand stelle: Dann ist der 3D-Effekt dahin und statt der Kugel erscheint ein eigenartiges schiefes Oval. Solche optischen Täuschungen gefallen mir. Sie machen mir auf verblüffende Weise klar, dass ich meiner Wahrnehmung nicht immer trauen kann. Das Gehirn interpretiert ständig, was sich meinen Sinnen darbietet, gleicht es mit bereits Erfahrenem ab und baut daraus…

  • Ins Gesicht geschlagen

    Das heutige Gast-Weg-Wort unter dem Motto «Am Hauptbahnhof erlebt» stammt von Valeria Gut, die in einer Apotheke im Hauptbahnhof arbeitet. Einmal kam ein Mann zu uns in die Apotheke; mit abgetragenen und fleckigen Kleidern. Ich konnte ihm ansehen, dass er sicher einige Tage und Nächte auf der Strasse verbracht hatte. Ein Auge war blutunterlaufen und geschwollen, und eine grosse, frisch genähte Wunde zog sich über seine Stirn. Er muss Schreckliches erlebt haben. Jemand hatte ihn mitten ins Gesicht geschlagen. Welch Brutalität! Die Gewalt, die ihm angetan wurde, machte mich zutiefst betroffen. Der Mann fragte nach einer Creme für sein Auge. Eine passende war schnell gefunden. Es galt, sie sehr vorsichtig…