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Die Fremden
«Ihr Name ist Europa. Sie kam über das Meer.» Diese Sätze leuchten mir am Bahnhof von St. Pölten, Österreich, im Abenddunkel als Neonschrift entgegen. Es handelt sich um eine Kunstinstallation von Borjana Ventzislavova. Zuerst verstehe ich nicht, was damit ausgesagt werden soll. Ich lese «Europa» und denke an unseren Kontinent mit seiner reichen Geschichte und seinen unterschiedlichen Völkern. Beim Satz «Sie kam über das Meer» hingegen fallen mir die vielen tausend Flüchtenden ein, die auf der Route übers Mittelmeer versuchen, nach Europa zu kommen und oft auf tragische Art und Weise sterben. Dann erst begreife ich: Die Aussage spielt auf den griechischen Mythos der Entführung der Europa an! Sie ist…
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Gewürze
Gewürze geben unserer Nahrung Pfiff. Pfeffer, Muskat, Zimt, Nelken und manche mehr finden heute selbstverständlich Verwendung beim Kochen und Backen, und wir kaufen sie für wenige Franken im Supermarkt. In früheren Zeiten waren die orientalischen Gewürze rar und kostbar. Sie geniessen zu dürfen war damals Privileg und Statussymbol. Für sie zahlte man hohe Summen, nahm beschwerliche Reisen auf sich, und der Handel mit ihnen versprach reichen Profit. Die Bedeutung der Gewürze wurde mir auf meiner Indienreise deutlich, als wir nach Thekkady im Bergland von Kerala kamen. Unter anderem besuchten wir dort einen Gewürzgarten und sahen, wie der Pfeffer wächst, nämlich als Kletterpflanze, die sich an anderen Bäumen emporrankt, wir betrachteten…
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Die Schneeflocke und der Frieden
Vor einigen Tagen erlebten wir ein ausgewachsenes Schneechaos. Nahezu die ganze Schweiz war betoffen. In vielen Orten ging nichts mehr. Wenn man eine einzelne Schneeflocke betrachtet, die einzigartig, wunderschön und federleicht ist, kann man es sich eigentlich kaum vorstellen, dass dieses kleine Kunstwerk der Grund dafür sein soll, dass das halbe Land lahmliegt. Die folgende Geschichte dreht sich genau um diesen Gedanken: dass etwas ganz Kleines den entscheidenden Unterschied machen kann. Und sie soll uns Mut machen, nicht zu unterschätzen, welches Gewicht die eigene Stimme hat. «Sag mir, wie viel wiegt eine Schneeflocke», fragte die Tannenmeise die Wildtaube. «Nicht mehr als nichts», gab sie zur Antwort. «Dann muss ich dir…
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Glauben und Wissen
Glauben und Wissen Glauben und Wissen, so höre und lese ich von Rationalisten und Materialisten immer wieder, seien von Grund auf unvereinbar. Wo die Grenze des Rationalen überschritten werde, öffne sich das zwielichtige Tummelfeld des Irrationalen und Okkulten. Der wissenschaftliche Siegeszug der Moderne scheint dieser Argumentation Recht zu geben. Doch stimmt der Wahrheitsanspruch dieser Weltsicht auch? Stehen sich Naturwissenschaft und Religion, Wissen und Weisheit tatsächlich in unauflöslichem Widerspruch gegenüber? In einem Briefwechsel mit C. G. Jung unterscheidet der seinerzeit an der Zürcher ETH lehrende Nobelpreisträger für Physik, Wolfgang Pauli, zwei Arten der Erkenntnis: Die kritisch-rationale, die sich auf messbare Daten und objektive Fakten stützt, sowie die mystisch-irrationale, die sich auf…
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Das grosse Ja
Für die Reihe von Gastbeiträgen unter dem Motto «Gott, wie ich ihn/sie sehe» hat unser Seelsorger Jürgen Rotner folgenden Beitrag geschrieben: «Gott ist das, worüber hinaus nichts Grösseres gedacht werden kann.» Anselm von Canterbury versuchte im 11. Jahrhundert mit dieser Definition Gottes Existenz zu beweisen und wurde dafür verschiedentlich kritisiert. Mich fordert dieser Satz seit dem Studium heraus: Wie gross kann ich denken? Wo mache ich Gott wegen der Grenzen meiner Vorstellungskraft kleiner? Forschungen der Physik inspirieren mich. Das James-Webb-Weltraumteleskop blickt wie nie zuvor in die Tiefen des Alls und verschiebt den Horizont des Erkennbaren. Am CERN werden mit den Teilchenbeschleunigern immer kleinere Bausteine der Materie gefunden. In beide Richtungen…