Nicht selbstverständlich
Eine Geschichte zum Nachdenken:
Im Zug sitzt ein Vater mit seiner jugendlichen Tochter, und beide schauen aus dem Fenster. Plötzlich fragt das Mädchen: «Papa, sind das Schafe?» Der Mann nickt und antwortet: «Ja, meine Liebe, das sind Schafe.» Begeistert zeigt die Tochter auf ein leuchtend gelbes Feld: «Und das da sind Sonnenblumen, Papa?» Lächelnd erwidert der Vater: «Genau, meine Liebe.» So geht es weiter und viele Fragen folgen: «Ist das ein Motorrad? Ist das eine Kirche? Und das ist eine Eiche? Fliegt da ein Hubschrauber?» Und immer antwortet der Vater gleichermassen geduldig und freudig: «Ja, meine Liebe.» Manchmal zeigt auch der Mann irgendwohin und sagt: «Schau mal, dieser Vogel ist ein Milan. O schau, was für ein prächtiger Tannenwald. Siehst du die Burg auf dem Berg dort drüben?»
Im Abteil gegenüber sitzt ein weiterer Fahrgast, der sich über das Verhalten der beiden sehr wundert. Irgendwann kann er sich nicht mehr zurückhalten und spricht den Vater an: «Stimmt etwas nicht mit ihrem Kind, ist es irgendwie zurückgeblieben? Nach meiner Meinung gehört es in eine Klinik.» Der Vater bleibt ruhig und antwortet: «Von einer Klinik kommen wir gerade. Meine Tochter war seit frühster Kindheit erblindet. Nun konnte ihr geholfen werden, und erst seit wenigen Tagen kann sie wieder richtig sehen.» Der Mann senkt den Blick und verstummt. Nach einer Weile wendet er sich an das Mädchen und sagt: «Ich muss mich für mein unangebrachtes Urteil entschuldigen. Sie beide haben mich gelehrt, andere Menschen nicht zu beurteilen, weil ich ihre Geschichte nicht kenne. Und noch etwas habe ich gelernt: Ich will wieder aufmerksamer durch die Welt gehen. Oft habe ich die Dinge um mich herum für allzu selbstverständlich genommen.»