Nicht zu halten

Als junge Frau hat sie den Krieg erlebt, die jetzt Hochbetagte. Und die Flucht: Das Nötigste zusammenpacken, alles andere zurücklassen und los. Sie hat es geschafft und überlebt. Aber nach dem Krieg gab es kein Zurück mehr, denn nun war der Eiserne Vorhang gezogen. Und als der endlich heruntergerissen wurde, hatte sie schon längst erfahren, dass ein Besuch in der alten Heimat unerträglich wäre. Denn das Dorf, in dem sie aufgewachsen war, gab es nicht mehr. Es war zerstört worden, und was an Ruinen übriggeblieben war, wurde über die Jahrzehnte von den neuen Bewohnern ausgeweidet. Nichts blieb übrig. Kein Haus, keine Strasse.
Sie hat in der Fremde neu angefangen, sich eine neue Existenz aufgebaut – wenn auch eine verwundete.

In einer Ostererzählung im Johannesevangelium wird auf die Himmelfahrt Christi hingewiesen, die wir gestern gefeiert haben. Maria von Magdala steht vor dem leeren Grab Jesu und weint. Der Auferstandene kommt auf sie zu, sie erkennt ihn zunächst nicht, und in dem Moment, in dem sie ihn erkennt, will sie ihn berühren. Jesus sagt: «Halte mich nicht fest; denn ich bin noch nicht zum Vater hinaufgegangen.»
Nichts ist zu halten auf dieser Welt. Nichts bleibt. Nicht mal Jesus.

Bald feiern wir Pfingsten. Pfingsten bedeutet: Anstelle des irdischen Jesus begleitet uns die Geistkraft Gottes.
Nichts ist zu halten. Nichts bleibt: Die Kraft des Göttlichen ist nicht an Orte gebunden, nicht an bestimmte Zeiten. Immer neu und anders kann sie uns werden. Auch wenn uns Trauer und Wunden bleiben.

Abb: Louis de Silvestre, Noli me tangere, 1735, Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden.
Quelle: https://skd-online-collection.skd.museum/Details/Index/185646