Nichts ist passiert

Die hier abgebildete Tafel habe ich in meinen Ferien in England an einem Haus entdeckt. England ist ein Land, das sich seiner Geschichte sehr bewusst ist. Deshalb sind solche Hinweise, die erklären, wer zu welcher Zeit an einem Ort gelebt hat oder was an jenem Platz früher einmal geschehen ist, durchaus üblich. So überraschte mich denn dieses Schild: „An diesem Ort ist am 5. September 1782 nichts passiert.“

Da scheint sich jemand über die Geschichtsversessenheit seiner Landsleute gehörig lustig zu machen. Darf es auch mal ein Haus geben, in dem nichts passiert ist?

Beim zweiten Lesen komme ich ins Grübeln: Aber natürlich ist am 5. September 1782 etwas geschehen! Da haben Menschen ihre tägliche Arbeit verrichtet, haben gekocht und gegessen. Und Gespräche wurden geführt. Ist in dem Örtchen ein Kind zur Welt gekommen? Oder jemand verstorben?

Mir wird bewusst, wie viel auf dieser Welt geschieht, das nirgends notiert und kaum weitererzählt wird und dennoch wichtig ist. Dass Geschichtsschreibung nichts Objektives ist, ist schon lange bekannt. Ebenso, dass es meist die Menschen sind, die über Bildung und Macht verfügen, die darüber entscheiden, was in die Geschichtsbücher kommt und was nicht.

Die christliche Kirche gäbe es nicht, wenn die einfachen Menschen, die sich in Palästina der Jesusbewegung anschlossen, nicht an die Bedeutung dieses Mannes geglaubt und die Geschichten um ihn beharrlich weitererzählt hätten. Es ist zu vermuten, dass Jesus als religiöser Eiferer, den man durch Hinrichtung aus dem Weg geräumt hat, allenfalls ein paar Generationen lang bei einigen wenigen ein Gesprächsthema geblieben wäre.

Erfahrungen und Erzählungen „von unten“ können manchmal das Bild, das sich „die da oben“ von der Welt machen, aufbrechen und korrigieren.

Foto: Privat