Ohne Titel

Dieses Weg-Wort hat keinen Titel.

Oder – hat es nicht doch einen? Denn immerhin steht ja etwas dort, wo sonst der Titel zu finden ist.

Auch in der bildenden Kunst gibt es Werke, die mit den Worten «Ohne Titel» oder der Abkürzung o.T. versehen sind. Womit auch da trotzdem so etwas wie ein Titel gegeben ist.

Offensichtlich fällt es uns schwer, etwas, das existiert, ohne Namen zu lassen. Irgendeine Bezeichnung scheint es einfach zu brauchen. Und tatsächlich ist es so, dass etwas in gewisser Weise gar nicht vorhanden ist, wenn man es nicht benennen kann. Was aus der Sprache fällt, kommt in unserer Denkwelt nicht wirklich vor. Das zeigt sich schon darin, dass wir etwas Namenloses mühsam zu umschreiben versuchen, um es fassbar zu machen. Dafür Worte zu haben, bedeutet, ein Stück weit darüber zu verfügen.

Im Judentum ist Gott «ohne Titel». Die hebräische Buchstabenkombination יהוה, die für Gott steht, wird nicht ausgesprochen. Stattdessen spricht man von HaSchem, was nichts anderes bedeutet als «der Name». Damit kann man von Gott reden, ohne den Namen benutzen zu müssen.

Und in der Erzählung von der göttlichen Berufung des Moses zum Anführer seines Volkes erhält Moses auf die Frage, wie denn der Name Gottes sei, die Antwort: «Ich werde sein, der ich sein werde.» Auch nicht wirklich ein Name…
So bleibt der Gott der jüdisch-christlich-muslimischen Tradition seltsam namenlos. Wir nähern uns Gott in Bildern, sprechen von einem Vater, einem Hirten oder einer Mutter, die tröstet. Das ist, als ob wir ein Bild beschreiben, das uns viel bedeutet, das aber ein Werk «ohne Titel» ist.

Wir können Gott nicht mit einem Namen oder Titel erfassen. Er/sie entwischt uns immer wieder.

Abb: Moses und der brennende Dornbusch, Ikone aus dem Katharinenkloster, Sinai, Ägypten, 12. od. 13. Jh.