Raum der Verschwiegenheit
Die Karlsbrücke in Prag gehört zu den grossen Touristenmagneten in der tschechischen Hauptstadt. Wer auf ihr entlang gegangen ist, wird neben den 30 unübersehbar grossen Heiligenstatuen auch kleinere Bronzereliefs entdeckt haben, die an bestimmten Stellen durch die Berührungen von Besuchenden ganz blankgescheuert sind. Die Reliefs stellen Szenen aus der Legende des Heiligen Johannes Nepomuk dar. Der Priester wurde im Jahr 1393 auf Geheiss des Königs Wenzel IV umgebracht und von der Brücke in die Moldau geworfen.
Der Legende nach soll Johannes Nepomuk der Beichtvater der Königin gewesen sein. Der eifersüchtige Wenzel vermutete ihre Untreue und drängte den Priester, das Beichtgeheimnis zu brechen. Als dieser sich standhaft weigerte, liess der König ihn foltern und von der Karlsbrücke stürzen. Dass sein Festhalten am Beichtgeheimnis der Grund zur Ermordung des Johannes Nepomuk war, ist historisch nicht belegt. Ungeachtet dessen breitete sich seine Verehrung besonders im 16. und 17. Jahrhundert aus. Als Heiligenfigur ist er vielerorts auf Brücken zu finden.
Das Beichtgeheimnis und das Seelsorgegeheimnis stellen in den christlichen Kirchen ein hohes Gut dar. Auch wenn bisweilen kontrovers diskutiert wird, ob sie in bestimmten Fällen Grenzen haben sollten, sind sie in unserem Land nach wie vor uneingeschränkt staatlich anerkannt. Durch die Schweigepflicht wird das Seelsorgegespräch zu einem Raum, welcher der weltlichen Macht und Vergeltung entzogen ist. Er verweist auf eine grössere Gerechtigkeit, die jeder Person die Möglichkeit zur Umkehr und zum Wandel zugesteht, unabhängig davon, was sie getan haben mag. Auf diesen Raum können auch die Menschen zählen, die zum Gespräch in die Bahnhofkirche kommen.