Reformiert spirituell
Wir leben in einer Zeit, in der immer weniger Menschen einer institutionalisierten Form der Religion – z.B. einer Kirche – angehören. Das heisst jedoch nicht, dass sie nicht religiös oder spirituell wären. Aber viele gehen heute individuelle Wege, suchen in verschiedenen religiösen Traditionen, machen z.B. Erfahrungen in unterschiedlichen Meditationsformen und legen sich nicht auf eine Zugehörigkeit fest. Sie bezeichnen sich viel eher als spirituell denn als religiös. Der Begriff „Spiritualität“ ist so etwas wie ein Markenzeichen geworden für individualisierte Formen der Beziehung zum Göttlichen oder zur Transzendenz. Und oft wird er als Gegensatz zur institutionalisierten Religion verstanden, die stärker auf Gemeinschaft und vorgegebene rituelle Formen – wie z.B. Gottesdienste – ausgerichtet ist.
Beim Nachdenken über diesen Themenkomplex ist mir aufgefallen, dass meine reformierte Kirche eigentlich urspirituell ist!
Sie zeichnet sich durch Bekenntnisfreiheit aus, durch die Betonung des Individuums und seines persönlichen Gottesbezugs. Es gibt keine verbindliche Glaubenslehre. Dem einzelnen Menschen wird zugetraut, dass er die Bibel liest und verstehen kann und das Geheimnis des Glaubens sich zwischen ihm/ihr und Gott ereignet. Er/sie ist in der Beziehung zur Transzendenz selbstverantwortlich. Zudem gibt es nur wenige gemeinschaftliche Formen. Auch die Gottesdienste sind wenig gemeinschaftsstiftend. Reformiert zu sein heisst, in grosser Freiheit seinen ureigenen Glaubensweg gehen. Es ist tatsächlich eine kaum institutionalisierte Form des Suchens und Erfahrens des Göttlichen.
Dieser Text ist ein bearbeiteter Ausschnitt aus einem längeren Beitrag des Autors auf der reformierten Social-Media-Plattform RefLab (https://www.reflab.ch/gibt-es-eine-reformierte-spiritualitaet/)
Foto: Mick Haupt, USA, 2020. Quelle: https://unsplash.com/photos/7Kv1Elbagcc