Regieren und reagieren

Bald sind in der Schweiz Wahlen. 5909 Personen auf 618 Listen kandidieren für das Parlament. Die meisten unter ihnen werden etwas verändern wollen im Land. Sie wollen ihre Visionen für unsere Gesellschaft umsetzen.

Die Bibel ist reich an grossen Visionen. So wird z.B. das Reich Gottes in gewaltigen Bildern gezeichnet: Das Ende aller Tränen, Friede, Gerechtigkeit. Auf den Einbruch dieser Wirklichkeit hoffen Christ:innen, für die Umsetzung dieser Werte bereits im Hier und Jetzt setzen sich viele aktiv ein. Sie engagieren sich mitunter auch politisch.

Als vor zwei Jahren die langjährige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel zurücktrat, hielt ein Journalist, der auf ihre Regierungszeit zurückblickte, fest, sie sei die meiste Zeit dazu gezwungen gewesen, auf Situationen zu reagieren. Internationale Finanzkrise, Besetzung der Krim, Flüchtlingsströme nach Europa, Corona… Und der jetzigen Nachfolgeregierung geht es genauso: Kaum im Amt, begann der Ukrainekrieg. Die Minister:innen der traditionell pazifistischen und ökologischen Partei der Grünen mussten sich mit Fragen um Waffenlieferungen, Rüstung und der schnellen Sicherung der Energieversorgung auseinandersetzen. Ihre Vision eines klimaverträglichen Wandels hingegen gerät ins Hintertreffen.  

Regierungspolitik – so bilanzierte der oben erwähnte Journalist sinngemäss – sei wohl weniger die Umsetzung eigener Visionen, als vielmehr verantwortungsvolles und umsichtiges Reagieren auf Entwicklungen, die man nur zu einem kleinen Teil selbst beeinflussen könne.

Ich glaube, er hat recht. Es braucht einen nüchternen Blick auf die vorfindlichen Verhältnisse, um die eigenen Spielräume zu erkennen und das Wenige umzusetzen, das die Situation erlaubt.

Für Christ:innen könnte das heissen: Die Vision am Horizont nicht aus den Augen verlieren, aber sich pragmatisch für das einsetzen, was in Ansätzen realisierbar ist. Es ist wenig genug.

Foto: Wahlen, Tim Reckmann, 2019, flickr. https://www.flickr.com/photos/foto_db/46871452315