Schau, du bist blind.
Der 2005 verstorbene Schweizer Maler Rémy Zaugg hat ein Bild geschaffen, auf dem nichts anderes zu sehen ist als diese Worte, in hellgrauen Buchstaben auf noch hellerem Grau als Hintergrund – so, dass die Schrift fast nicht mehr zu erkennen ist.
Ein Bild also, das zu mir spricht. Dabei sind Bilder doch zum Ansehen da! Und dann sagt es mir ausgerechnet, dass ich blind bin? Da ich dies aber lese, kann die Aussage nicht stimmen. Und warum sagt es «schau», wenn es doch behauptet, ich sei blind? Absurd.
Aber gerade darum geht es dem Künstler: dass ich nicht nur schnell einen Blick auf ein Bild werfe, sondern mich damit auseinandersetze, was Sehen – oder eben Schauen – bedeutet. Ich soll mich einlassen, genau hinschauen, ergründen, was es zu sehen gibt und was ein Bild eigentlich ist. Ansonsten bleibe ich blind.
Und so ist es nicht nur mit einem Kunstwerk, sondern eigentlich mit allem, was mir begegnet. Sind die Bäume und Berge, ist das Essen, sind die Menschen für mich wie «Dinge», die ich zur Kenntnis nehme, oder lasse ich mich auf sie ein, trete ich in einen lebendigen Dialog mit ihnen? Der Religionsphilosoph Martin Buber sprach von der Möglichkeit der «Ich-Du-Beziehung» zwischen mir und alldem, was mir begegnet. Nur in einer Beziehung, in der mir das andere zu einem «Du», einem Gegenüber wird, findet laut ihm wirkliches Leben statt. Bei Rémy Zaugg geht es um das Schauen – im Gegensatz zum blossen Hingucken. Geschieht das nicht, ist man «blind».
Schauen und Blindheit sind auch in der Erfahrungswelt des Glaubens wichtige Motive. Ob der Künstler auch diese Dimension ansprechen wollte? Man kann Gott nicht sehen und nur symbolisch darstellen. Man ist ihm gegenüber blind. Aber kann man Gott schauen? Jenseits des Sehens, der Sprache, des Alltagsbewusstseins scheint Begegnung mit dem Göttlichen möglich zu sein. Davon berichten Texte der Bibel und der Mystik. Sie sprechen dann von der Gottesschau.
Abb: Rémy Zaugg, Schau, du bist blind, 1989-91. Foto: SIK-ISEA, Zürich. © Mai 36 Galerie, Zurich.