Scheinriese
In Michael Endes Kinderbuch «Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer» treffen die beiden während ihrer abenteuerlichen Reise auf Herrn Tur Tur. Herr Tur Tur ist kein gewöhnlicher Mensch, sondern ein Riese, vielmehr ein Scheinriese. Als Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer ihn das erste Mal am Horizont erblicken, erscheint er gigantisch gross. Doch je mehr sich Tur Tur ihnen nähert, ganz vorsichtig, weil seine Grösse so angsteinflössend ist, umso kleiner wird er. Als Tur Tur schliesslich vor ihnen steht, können Jim und Lukas erkennen, dass er von ganz normaler Grösse ist und dazu noch ein friedlicher, freundlicher, netter und hilfsbereiter Mann. Sie merken auch, dass Tur Tur einsam ist, weil sich die anderen Menschen nicht in seine Nähe trauen und sich zu Unrecht vor ihm fürchten.
Mit dem Scheinriesen hat Michael Ende eine literarische Figur geschaffen, die in viele menschliche Zusammenhänge hineinsprechen kann. Manchmal passen Überzeugungen oder gemachte Lebenserfahrungen nicht zu dem, was wirklich ist. Manchmal ist es anders, als es auf den ersten Blick erscheint. Mir sagt Tur Tur vor allem im Umgang mit der eigenen Angst etwas. Vieles im Leben jagt Angst ein, was weit in der Ferne ist oder was ich bewusst auf Abstand halte. Es erscheint übergross und bedrohlich. Sich der eigenen Angst zu nähern, das braucht jede Menge Mut. Dieser Mut kann sich auszahlen, wenn ich nämlich erkenne, dass der Auslöser meiner Angst gar nicht so schlimm ist. So mancher Riese, der am Horizont meines Lebens auftaucht, entpuppt sich letztlich doch als ein Scheinriese. Es lohnt sich, immer wieder mutige Schritte zu machen.