Schon wieder ein normales Krisenjahr
Im Weg-Wort vom 1. Januar wurde der Blick auf kleine Dinge gerichtet, die guttun: Interreligiöse Räume der Stille.
Heute soll es um grössere Zusammenhänge gehen. In den Rückblicken auf das vergangene Jahr überwog die Ansicht, es sei ein Krisenjahr gewesen: Krieg in der Ukraine, Energiekrise, Klimawandel usw. Entsprechend pessimistisch waren auch viele Prognosen für 2023.
Mir sind diese Einschätzungen suspekt. Sie kommen mir zu sehr aus einem Erleben der Gegenwart – sind ahistorisch – und aus einer westlichen Sicht. Wenn man nur ein bisschen in die Geschichte zurückblickt, stellt man fest, wie erschreckend normal Krisen sind. Die atomare Hochrüstung in den 70er- und 80er-Jahren, die Jugoslawienkriege mit ethnischen Säuberungen in den 90ern, der IS-Terror vor ein paar Jahren. Und wenn man den eurozentrischen Blick verlässt, dann gibt es da z.B. Syrien, das seit 2011 Krieg erlebt, oder Afghanistan, das seit 1979 in der Dauerkrise steckt.
Wenn ich diese Perspektiven einnehme, dann war 2022 ein Jahr wie viele andere auch. Immer wieder ist es so: Von politischer Macht werden Menschen angezogen, die egozentrisch, rücksichtslos und gewaltbereit sind. Und Menschen und Gruppierungen, die anders sind als wir, verunsichern uns. Solche Verunsicherung lässt sich dann leicht für Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Gewalt instrumentalisieren. Keine Gesellschaft ist davor gefeit. Umso wichtiger sind politische Mechanismen, mit denen wir Macht begrenzen können – als Schutz vor uns selbst! Gewaltenteilung, Amtszeitbeschränkungen, unabhängige Justiz etc.
Und vom Glauben her lässt sich sagen: Es gilt immer neu, Liebe einzuüben. Für alle Menschen. Auch für die andern, die Feinde. Damit ich nicht hart und zynisch werde, sondern den Blick auf das Gute nicht verliere und Kraft behalte, mich für oben genannte Mechanismen des gelingenden Zusammenlebens einzusetzen.
Foto: Step in 2023, CCNull, Marco Verch. Quelle: https://ccnull.de/foto/step-in-2023/1045426