Selbsterkenntnis

Die Gedichte des deutschen Lyrikers Eugen Roth lese ich gerne. Besonders die Verse im Band «Ein Mensch», der vor 90 Jahren erschien, bringen mich immer wieder zum Schmunzeln und gleichzeitig zum Nachdenken. Roth betrachtet in diesen Gedichten unsere allzu menschlichen Seiten, und welche Streiche uns die Konventionen und das Denken manchmal spielen. Im heutigen Weg-Wort möchte ich Ihnen das Gedicht «Falscher Verdacht» mit in den Tag geben:

Bildquelle: Wikimedia Commons

Ein Mensch hat meist den übermächtigen
Naturdrang, andre zu verdächtigen.
Die Aktenmappe ist verlegt.
Er sucht sie, kopflos und erregt,
Und schwört bereits, sie sei gestohlen,
Und will die Polizei schon holen
Und weiss von nun an überhaupt,
Dass alle Welt nur stiehlt und raubt.

Und sicher ist’s der Herr gewesen,
Der, während scheinbar er gelesen –
Er ahnt genau, wie es geschah …
Die Mappe? Ei, da liegt sie ja!
Der ganze Aufwand war entbehrlich
Und alle Welt wird wieder ehrlich.

Doch den vermeintlich frechen Dieb
Gewinnt der Mensch nie mehr ganz lieb,
Weil der die Mappe, angenommen
Sie wäre wirklich weggekommen –
Und darauf wagt er jede Wette –
Gestohlen würde haben hätte!

Alte Erfahrungen bestimmen oft das Verhalten und Urteilen, zum Beispiel das Misstrauen wie in diesem Fall. Sogar als sich der Verdacht als unbegründet herausstellt, bleibt noch etwas zurück. Werden wir uns solcher Denkmechanismen bewusst, dann brauchen wir sie nicht mehr so ernst zu nehmen und können uns selbst mit Humor anschauen, was unser Leben um einiges leichter und freier macht.