Späte Tränen
Joachim Gauck war der erste deutsche Bundespräsident aus der ehemaligen DDR. Vor dem Zusammenbruch des Regimes 1989 war er Pfarrer der Lutherischen Kirche und nahm eine dezidiert kritische Haltung gegenüber dem kommunistischen Staat ein. In der Zeit der Wende zeichnete er für die regelmässig stattfindenden Protestmärsche in Rostock mitverantwortlich und gehörte der oppositionellen Bewegung «Neues Forum» an.
Weniger bekannt ist, dass Gaucks Söhne vorher die DDR Richtung Westdeutschland verliessen. 1987 wird ihnen die Ausreise gestattet. Da der Vater es als seine Aufgabe sieht, in dem Unrechtstaat zu bleiben, machen ihm die Pläne der Kinder wenig Freude. Beim Abschied weint zwar die Mutter, Gauck jedoch bleibt völlig rational. Zitat aus einem Podcast von 2022: «Das Interessante ist, dass der Mann (Gauck spricht von sich selbst) (…) auf dem Bahnhof steht und keine Träne vergiesst, und der Frau erklärt, die weint: So ist doch das Leben. Sieh doch das ein. Erwachsene Kinder verlassen ihr Elternhaus und gehn in die Welt hinaus. Das ist schon immer so gewesen. (…) Und ich bin der Coole. Schrecklich!»
Erst spät wird Gauck bewusst, wie er damals mit sich selbst umgegangen ist: Dass er nicht wissen konnte, wann er seine Kinder wiedersehen würde und seine Gefühle dennoch in unglaublicher Härte wegdrückte. So ist es berührend, dass dem so souveränen Staatsmann 35 Jahre später, in dem Podcast, die Stimme versagt, und er weinen muss, als er von der Trennung erzählt.
Noch immer sitzt es tief in uns Männern, dass wir stark und vernünftig sein sollen und Gefühle ein Ausdruck von Schwäche sind. Und gerade in der Kirche sind wir mit der Haltung gefährdet, wir müssten alles aushalten, für andere da sein und uns selbst verleugnen. Nein! Müssen wir nicht.
Foto: Joachim Gauck, 2014. Tobias Kleinschmidt. https://securityconference.org/mediathek/asset/joachim-gauck-1734-31-01-2014/