Standpunktwechsel
Gleich neben der Bahnhofkirche befindet sich seit kurzer Zeit eine 3D-Installation. Von einem bestimmten Blickwinkel aus sieht die betrachtende Person eine im Raum schwebende und von oben beleuchtete Kugel, die einen Schatten an die Wand wirft, und durch die die Linien der Wand verzerrt hindurchscheinen. Dieser Eindruck ändert sich schlagartig, wenn ich mich frontal vor die Wand stelle: Dann ist der 3D-Effekt dahin und statt der Kugel erscheint ein eigenartiges schiefes Oval.
Solche optischen Täuschungen gefallen mir. Sie machen mir auf verblüffende Weise klar, dass ich meiner Wahrnehmung nicht immer trauen kann. Das Gehirn interpretiert ständig, was sich meinen Sinnen darbietet, gleicht es mit bereits Erfahrenem ab und baut daraus eine eigene Version der Wirklichkeit. Wir alle machen das auf diese Weise. Manchmal reicht bereits der Wechsel des Standpunkts um wenige Schritte um zu merken: «Aha, es ist ja anders, als ich dachte.»
Entscheidend ist diese Erkenntnis, wenn es um andere Menschen geht. Herkunft, Erziehung und Erfahrungen beeinflussen, wie ich eine Person wahrnehme und beurteile. Wer nicht in mein Weltbild passt, dem kann Ablehnung drohen. «Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet», lese ich in der Bergpredigt, und der Schriftsteller Max Frisch fordert uns auf, das «Du sollst dir kein Bildnis machen» auf jeden Menschen anzuwenden. Gott kennt alle Standpunkte und weiss, wie jeder Mensch eigentlich gemeint ist. Wir sind eingeladen, uns immer wieder darin zu üben, seinen Blickwinkel einzunehmen.
Die 3D-Installation ist Teil einer City-Rally des WOW Museums Zürich. Informationen zu weiteren optischen Illusionen in der Stadt finden Sie unter www.wow-museum.ch.