Steig hinab in die Krypta!
In der Freitagausgabe des Weg-Wortes äussern sich derzeit Mitarbeitende der Bahnhofkirche zum Thema „Gott, wie ich ihn sehe“. Der heutige Beitrag stammt vom reformierten Seelsorger, Pfarrer Leonhard Jost.
Mein Weg zu Gott war zunächst ein Kreuzweg. Als einziger Sohn eines Landpfarrers war mein Weg vorgespurt. Auch ich sollte Pfarrer werden. Ich habe das Opfer gebracht und contre coeur das Theologiestudium aufgenommen. Genauer gesagt habe ich mich an der Uni zunächst mit den atheistischen Argumenten eines Feuerbach, Marx, Nietzsche und Freud ausgerüstet, um gegen die Glaubensgewissheiten meines Vaters anzukämpfen. Kurz vor dem erwogenem Studienabbruch hatte ich einen Schlüsseltraum, der mir zum Saulus-Paulus Erlebnis wurde:
Ich sitze allein in der Göttinger Universitätskirche St. Nicolai. Plötzlich erhebt sich ein gewaltiger Feuersturm. In der Gluthitze bersten die Mauern, der Glockenturm fällt in sich zusammen. Ich finde den Ausgang nicht. Todesangst durchpulst mein Herz. In der äussersten Verzweiflung erschallt eine Stimme: „Steig hinab in die Krypta!“ Ich folge der Stimme. Dort treffe ich auf ein «Leiterwägeli», auf dem ein schlichtes, uraltes Holzkreuz liegt. Erneut ertönt die Stimme: „Nimm den Wagen. Ich zeige dir den Weg hinaus aus den Katakomben der Kirche.“ Draußen erwartet mich eine heiter gestimmte Menschenschar. Ich verkündige ihnen Jesu frohe Botschaft.
Der Traum bedeutete für mich eine befreiende Kehre. Er gab mir die erlösende Erlaubnis, mich aus dem Gemäuer einer verkopften, seelenlosen, dogmatischen Gotteslehre zu verabschieden und hinabzusteigen in die Krypta meiner Selbst, in die Schatzkammer eigener möglicher Gotteserfahrungen.
Ab diesem Zeitpunkt wage ich auf die Frage «Glaubst du an Gott?», ganz scheu zu antworten: „Nein, ich glaube nicht an Gott, ich weiß ihn. Ich weiß ihn trotz meines Mangels, ihn in den Ablenkungen und Verführungen des Alltags allzeit gegenwärtig zu halten. Obwohl ich ihm manchmal fern bin, weiß ich doch, dass er da ist, mir näher, als ich mir selbst bin. So bekenne ich Gott als den schöpferischen Urgrund allen Seins, als das ewig Eine hinter dem zeitlich Vielen, als den Quellgrund meiner Seele, als den Odem meines Atems, als das Licht, das Herz und das Heil der ganzen Welt.“