Umdeuten
Die Aufforderung in der Bergpredigt, die andere Wange hinzuhalten, wenn man geschlagen wird, erscheint sehr provokativ. Aus dem östlichen Kulturkreis stammt eine Geschichte, die das Verständnis dafür vertiefen kann:
Eines Abends sass der Zen-Meister Shichiri Kojun wie üblich beim Beten, als ein Dieb mit scharfem Schwert hineinstürmte und schrie: «Gib mir dein Geld oder ich bringe dich um!» Ruhig antwortete Shichiri: «Störe mich nicht. Das Geld findest du dort in der Schublade.» Dann nahm er sein Gebet wieder auf.
Kurz darauf fügte er hinzu: «Nimm mir bitte nicht alles. Ich brauche morgen noch etwas, um meine Steuern zu bezahlen.» Der Eindringling liess ein paar Batzen zurück und wollte gerade verschwinden, als der Mönch ihm hinterherrief: «Wenn man ein Geschenk erhalten hat, dann ist es freundlich, sich zu bedanken.» Der Mann brummte ein missmutiges Danke und zog von dannen.
Wenige Tage später wurde der Dieb gefasst und gestand seine Vergehen, auch das gegen Shichiri. Der Zen-Mönch wurde als Zeuge vorgeladen und gab zu Protokoll: «Dieser Mann ist in meinen Augen kein Dieb. Ich gab ihm das Geld und er bedankte sich dafür.» Für die anderen Straftaten erhielt der Angeklagte eine Gefängnisstrafe, und nachdem er diese verbüsst hatte, kam er zu Shichiri und bat darum, sein Schüler zu werden.
Die Geschichte beleuchtet, wie eine Alternative zur Vergeltung aussehen kann. Der Zen-Mönch hat den Mann nicht blossgestellt und das Vorkommnis so umgedeutet, dass dieser sich besann und sein Leben änderte.