Unheilvoller Mechanismus

Warum gibt es diesen Drang, für alle Widerfahrnisse einen Schuldigen bestimmen zu müssen? Irgendwie ist es ja verständlich: Man will wissen, wer verantwortlich ist für den Schlamassel, und die betreffenden Personen zur Rechenschaft ziehen. Bei der Konzentration auf die Schuldfrage gerät allerdings das Finden von notwendigen Lösungen leicht in den Hintergrund.

Ist eine Gemeinschaft in grösserem Mass verunsichert, dann passiert es schnell, dass sich die Sichtweisen verengen, und die ganze Schuld einer bestimmten Gruppe oder Person angelastet wird. Sie werden zu Sündenböcken, und ihre Bestrafung oder Drangsalierung wirkt wie ein entlastendes Ventil für die Gemeinschaft.

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Dieser Sündenbockmechanismus verdankt seine Bezeichnung einem alten jüdischen Ritual. Jährlich am Versöhnungstag wurden die Sünden des Volkes symbolisch auf einen Ziegenbock geladen und dieser wurde dann in die Wüste getrieben oder eine Felswand hinuntergestürzt. Das Ritual wird nicht mehr praktiziert, und heute macht man sich am Versöhnungstag die eigene Schuld bewusst. Den Sündenbockmechanismus musste das jüdische Volk in der Zeit des Nationalsozialismus am eigenen Leib erfahren und erleiden. Jesus selbst ist ihm zum Opfer gefallen. Viele Menschenrechtsverletzungen lassen sich darauf zurückführen.

Wir können einiges tun, damit wir in unserer herausfordernden Zeit nicht in dieselbe Falle tappen: wenn wir uns nicht an der Verbreitung von Gerüchten und vereinfachenden Schuldzuschreibungen beteiligen, wenn wir Unwissen eingestehen und aushalten, wenn wir uns fragen: „Welchen Anteil habe ich an der bestehenden Situation?“ und „Wie kann ich zur ihrer Bewältigung beitragen?“ Im respektvollen Miteinander werden wir Lösungswege finden, die uns erlauben, einander auch nach der Krise noch in die Augen zu schauen.