Unter der Hülle
Ich lese derzeit das Buch des buddhistischen Mönchs und Gelehrten Jack Kornfield, der lange Jahre in jenem Waldkloster in Südthailand lebte, in dem ich selbst auch einmal ein paar Wochen zugebracht habe. Darin schildert er die Geschichte einer riesigen, fünfhundert Jahre alten Buddhastatue, die einst in einem Kloster der nordthailändischen Provinzhauptstadt Sukhothai stand. Die Statue war aus Ton gefertigt und hatte über die Jahrhunderte Risse bekommen. Eines Nachts nun machte sich ein wunderfitziger Mönch daran, einen dieser Risse mit einem Meissel so auszuweiten, dass man ins Innere der Statue blicken konnte. Er zündete eine Fackel an – und was er dann zu Gesicht bekam, verschlug ihm Atem und Sprache. Denn unter der dicken Tonschicht verbarg sich eine der größten und schönsten je von dem Buddha angefertigten Goldstatuen.
Historiker vermuten, dass man das kostbare Kunstwerk mit einer Tonschicht umhüllte, um es in Zeiten kriegerischer Konflikte vor gierigen Händen zu schützen.
Der Autor schreibt dann: „Ist es mit uns selbst nicht ähnlich? Jeder von uns hat irgendwann schwere Zeiten durchlebt, die jedoch dazu beitragen, den uns innewohnenden Kern freizulegen. Doch wie die Menschen von Sukhothai den goldenen Buddha vergessen hatten, so haben auch wir unsere wahre Natur vergessen. Meist sind wir nur mit der uns vermeintlich schützenden äusseren Tonschicht befasst. Das Ziel aber aller Religionen ist es, uns Menschen den Blick unter und hinter diese Hülle zu eröffnen, damit unsere ursprüngliche Natur, unser wahres Selbst, das ewig Göttliche in uns in seinem makellosen Glanz wieder zum Vorschein kommen kann.“
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