Unverloren
Judentum, Christentum und Islam sind Wortreligionen. Für sie sind die Heiligen Schriften zentrale Säulen des Glaubens. Durch das Wort offenbart sich Gott. Durch das Wort erschafft Gott die Welt. Kein Wunder, dass in den von ihnen geprägten Kulturen die Sprache eine hohe Bedeutung geniesst und die jeweiligen Literaturgeschichten ihre Wurzeln in der religiösen Dichtung haben.
Im Dritten Reich wurde die deutsche Sprache durch die Nazidiktatur missbraucht und entwertet. Sie wurde zum Instrument von Propaganda und Macht. Hier schuf das Wort nicht die Welt, sondern raubte der Welt ihre Wirklichkeit.
So stellte sich für die deutsche Literatur nach der Katastrophe des Krieges die Frage: Würde man je wieder wahrhaftig und glaubwürdig schreiben können? Oder war es barbarisch, nach Auschwitz noch Gedichte zu schreiben, wie der Philosoph Theodor W. Adorno provokativ behauptete?
Dem jüdischen Dichter Paul Celan gelang es, zu einer geläuterten, zu seiner Sprache zu finden. In der Rede zur Verleihung des Bremer Literaturpreises 1958 sagt er: „Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie musste nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, ‘angereichert’ von all dem. “
Solche Worte lassen die schöpferische und offenbarende Kraft der Sprache spüren. Sie ist dies immer dann, wenn sie sich nicht in den Dienst der Macht stellt und sich selbst gegenüber kritisch bleibt. Und wenn sie sich dem Leben in seiner Komplexität und Vielfalt stellt. So kann sie auch Spuren Gottes in der Wirklichkeit freilegen.
Abb: Alexander Polzin, Hommage à Paul Celan, 2016, Jardin Anne Frank, Paris. Foto: Guilhem Velluts, 2016. flickr