Vater unser Allahu akbar

Es ist wie immer, wenn man auf ein Jahr zurückblickt: Natürlich hat es wieder Kriege gegeben und Hunger, Regierungswechsel, Beförderungen im Beruf, Streit und Versöhnung in der Familie. Und natürlich gibt es immer noch diese Pandemie. Ich will in diesem Weg-Wort aber etwas herauspicken, das mich 2021 besonders berührt hat.

In der Bahnhofkirche schliessen wir den Tag jeweils mit dem Abendgebet ab. Oft sind genau in diesem Moment auch Muslime im Raum der Stille, die ihr Gebet verrichten. Ich erkläre ihnen dann, dass es jetzt ein laut gesprochenes christliches Gebet gebe und frage, wie wir mit der Situation umgehen wollen. Und immer erklären sie mir, dass das überhaupt kein Problem sei und sie gut während unserer Liturgie beten können. Und so kommt es, dass wir im selben Raum zum selben Gott beten, den wir mit verschieden Namen in verschiedenen Sprachen ansprechen.

Ebenso habe ich erlebt, wie in der Amtseinsetzungsfeier eines neuen christlichen Seelsorgers im Bundesasylzentrum sein muslimischer Kollege in vollster Selbstverständlichkeit einen Teil des Fürbittegebets übernommen hat.

Eigentlich ist es traurig, dass mir dies erwähnenswert scheint. Aber die Geschichte des Islams und des Christentums ist belastet durch unzählige Kriege, gegenseitige Zerstörung von Gotteshäusern und feindliche Rhetorik. Und fundamentalistische Gruppierungen in beiden Religionen führen auch heute den Kampf weiter. Jede Gegenerfahrung dazu ist deshalb kostbar und kann nicht genug gewürdigt werden.

2022 wird die Welt nicht besser werden. Umso mehr hoffe ich auf solche Zeichen der Toleranz und der Freundschaft zwischen Menschen und Religionen. Auch dank ihnen ist die Welt aushaltbar.

Foto: Bahnhofkirche Zürich. Manuela Matt manuelamatt.ch