Verdrängte Schatten

Meine Mutter ist in Deutschland aufgewachsen. Als Kind und Jugendliche hat sie die Nazidiktatur und den Krieg erlebt. Sie hat uns das als dunkle Zeit beschrieben. Bei ihnen zuhause war man gegen Hitler. Gleichzeitig meinte sie, in der Kleinstadt, in der sie lebte, habe man konkret nicht viel davon mitbekommen. Sie glaube nicht, dass etwa jüdische Menschen gross zu Schaden gekommen seien.

Jahrzehnte später stiess ich auf dem Friedhof des Städtchens auf einen Gedenkstein. Er erinnerte an die jüdischen Menschen, die während der Nazizeit ermordet worden waren…

Noch ein paar Jahre später tauschte ich mit meiner Cousine über ihren Vater – den Bruder meiner Mutter – aus. Er war als 18-Jähriger in die Wehrmacht eingezogen worden und gegen Ende des Krieges in Gefangenschaft gekommen. Es beschäftigte uns, dass er ein solch schweigsamer Mann gewesen war. Und wir realisierten, dass man in unserer Familie nie wirklich über seine Erlebnisse gesprochen hatte. Wir wussten kaum, wo er im Kampfeinsatz gewesen und was dort geschehen war. In meiner Wahrnehmung galt der Onkel immer als Opfer des Krieges. Die schweren Erlebnisse hatten ihn zum Schweiger gemacht. Das ist mit Sicherheit wahr. Aber plötzlich wurde mir bewusst, dass er in all den Fronteinsätzen mit einiger Wahrscheinlichkeit auch Menschen getötet hat! Er war – so muss ich annehmen – auch Täter. Und obwohl das so naheliegend ist, war ich tatsächlich bis jetzt noch nie auf diesen Gedanken gekommen.

Enorm sind die Kräfte, die Dunkles verdrängen! Sie lassen ganze Familien verstummen.

Die Karwoche mit ihren Erzählungen um Jesu Gefangennahme, Misshandlung und Ermordung konfrontiert mit den Schattenseiten des Menschseins. Sie ist wie ein Spiegel: Das Dunkle ist nicht nur bei den andern. Wir finden es auch in uns.

Abb: Die Jeanne d ‚Arc-Schule steht in Flammen. Maglekildevej in Frederiksberg, Dänemark. 21. März 1945. Quelle: Dänisches Nationalmuseum