Vermeintliche Schwächen

Der Januar ist nun schon wieder ein paar Tage alt und die ersten guten Vorsätze sind womöglich bereits gebrochen. Nicht schlimm, finde ich, denn ich plädiere sowieso für einen etwas anderen Start ins neue Jahr; nämlich nicht zu streng mit sich selbst zu sein und mit den eigenen Schwächen und Wunden Freundschaft zu schliessen. Denn gerade die sind es doch, die uns zu dem Menschen machen, der wir sind. Der Theologe Henri Nouwen erzählt in seinem Buch «In ihm das Leben finden» die folgende Geschichte:

Quelle: pixabay

Ein Zimmermann und sein Lehrling gingen miteinander durch einen grossen Wald. Als sie auf einen grossen, riesigen, knorrigen, alten wunderschönen Eichbaum stiessen, fragte der Zimmermann seinen Lehrling: «Weißt du weshalb dieser Baum so gross, so riesig, so knorrig, so alt und so wunderschön ist?». Der Lehrling schaute seinen Meister an und sagte: «Nein… warum?». «Deshalb», sagte der Zimmermann, «weil er nutzlos ist. Wäre er brauchbar gewesen, dann wäre er schon längst gefällt und zu Tischen und Stühlen verarbeitet worden. Aber weil er unbrauchbar ist, konnte er so wunderschön werden, dass man sich nun in seinen Schatten setzen und sich unter ihm erholen kann.»

Vielleicht ist gerade das, was wir am liebsten aus unserem Leben werfen würden – die Mobbingerfahrung, die schwere Erkrankung, das Scheitern, die finanziellen Sorgen, der Familienstreit, alles, was uns so unvollkommen erscheint und was wir für unbrauchbar halten – unsere Möglichkeit, um zu wachsen, um gross und knorrig zu werden und anderen Menschen mit unseren Lebenserfahrungen erholsamen «Schatten» zu spenden, damit sie sich in unserer Nähe wohl und verstanden fühlen.