Vom Anderen her sehen
Im Blick auf Verantwortlichkeit, Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit misst man den Mitmenschen oft mit anderen Massstäben als sich selbst. Michael Richey, ein norddeutscher Gelehrter des 18. Jahrhunderts, hat ein treffendes Gedicht dazu geschrieben. Es heisst «Der Junker und der Bauer» und lautet so:
Ein Bauer trat mit seiner Klage
vor Junker Alexander hin:
«Vernehmt, Herr, dass ich heut am Tage
recht übel angekommen bin:
Mein Hund hat Eure Kuh gebissen.
Wer wird den Schaden tragen müssen?»
«Schelm, das sollst du!» fuhr hier der Junker auf,
«für dreissig Taler war mir nicht die Kuh zum Kauf,
die sollst du diesen Augenblick erlegen.
Das sei hiermit erkannt von Rechtes wegen.»
«Ach nein, gestrenger Herr! Ich bitte, hört»
rief ihm der Bauer wieder zu,
«ich hab’ es in der Angst verkehrt;
nein, Euer Hund biss meine Kuh.»
Und wie hiess nun das Urteil Alexanders?
«Ja, Bauer! Das ist ganz ein anders!»
Die Tendenz, die eigenen Fehltritte eher entschuldigen als die der anderen, ist allzu menschlich und wohl überall bekannt. In vielen Kulturen und Religionen ist ein Gegenmittel dafür zu finden, die Goldene Regel. Sie besagt: «Behandle deine Mitmenschen so, wie du selbst behandelt werden möchtest.» Der gewitzte Bauer wusste um die allzu menschliche Seite des Junkers. So versuchte er, Alexander mit einem Perspektivenwechsel an seine Verantwortung zu erinnern. Zur Goldenen Regel gehört ebenfalls der Wechsel der Blickrichtung. Sie lässt uns die Sachlage vom Anderen her betrachten und hält uns zugleich den Spiegel hin. Diese Fähigkeit brauchen wir, damit unser Miteinander gedeiht.