Von einem, den es gibt, obwohl es ihn nie gegeben hat

Kennen Sie Leopold Bloom? Diesen Sommer bin ich in Dublin auf seinen Spuren gewandelt. Ich habe den Laden besucht, wo er am 16. Juni 1904 eine Zitronenseife gekauft hat. Ich habe im Pub «Davy Byrnes» ein Gorgonzola-Sandwich gegessen, wie es Bloom am selben Tag getan hat.

Damit habe ich mich in eine lange Reihe von Menschen eingereiht, die es vor mir genauso gemacht haben. Leopold Bloom gibt es, weil unzählige Menschen von dieser Romanfigur aus James Joyce’s «Ulysses» berührt sind. Das Buch ist vor genau 100 Jahren erschienen. Bloom ist eine Erfindung des irischen Autors. Er hat nie gelebt, und doch «gibt» es ihn, weil die Episoden, die Joyce ihn erleben lässt, den Lesenden etwas bedeuten. Er lebt ihn ihnen. Ihm ist sogar ein Tag gewidmet: Der 16. Juni ist der «Bloomsday».

Warum ich das schreibe? Weil das, was mit Joyce’s Bloom geschieht, überraschend viel mit unseren Glaubensüberlieferungen zu tun hat.

Ob es Moses, den Befreier des Volkes Israel aus der Gefangenschaft in Ägypten, je gegeben hat, ist höchst ungewiss. Heutige Bibelforschung weiss, dass die meisten Erzählungen, die wir über ihn lesen, Glaubensgeschichten sind, und keine historischen Berichte. Moses ist im Wesentlichen eine biblische Symbolfigur. Als diese aber ist er von eminenter Bedeutung. Er steht für das Vertrauen auf einen Gott, der Menschen aus Unterdrückung befreit und durch Krisen hindurch begleitet. Er steht für den Glauben an einen Gott, der Menschen Gesetze gibt und damit gesellschaftliches Zusammenleben ermöglicht. Und so ist es mit vielen biblischen Gestalten. In den Geschichten, die von ihnen erzählt werden, werden existentielle Fragen des Menschseins verhandelt, werden zentrale Glaubensinhalte mit Leben gefüllt. Wichtig ist nicht die historische Wahrheit über diese Menschen, sondern der Geist Gottes, der uns in den Erzählungen über sie ermutigt, tröstet und inspiriert.

Abb: Gorgonzola-Sandwich im Pub «Davy Byrnes», Dublin, 2022. Foto: Privat