Wie die Kinder
«Kindermund tut Wahrheit kund.» Die alte Volksweisheit leuchtet ein: Kinder sprechen in ihrer Schlichtheit unmittelbar aus, was sie wahrnehmen, ohne Rücksichten und Taktiken, von welchen Erwachsene so oft geleitet werden. Die Neurowissenschaften haben sogar eine Erklärung dafür. Erst während der Pubertät verstärken sich die Verbindungen zum Frontalhirn und dieses gewinnt mit seinen komplizierteren moralischen und strategischen Funktionen an Einfluss.
Heute vor 150 Jahren starb der dänische Märchenautor Hans Christian Andersen. Er hat das Sprichwort anschaulich und unterhaltsam in einer seiner Erzählungen umgesetzt. Es geht dort um einen Kaiser und seinen Hofstaat, die sich von zwei Betrügern übertölpeln lassen. Diese geben sich als Schneider aus und behaupten, die prächtigsten Gewänder zu fabrizieren, welche unsichtbar seien für diejenigen, die dumm oder nicht für ihr Amt geeignet seien. Weil das niemand zugeben will, spielen alle das Spiel mit, selbst der Kaiser. Als er seine neuen «Prachtgewänder» auf einer Prozession präsentiert, schweigt die ganze Bevölkerung. Plötzlich ruft ein Kind: «Aber er hat ja gar nichts an!» Erst jetzt getrauen sich nach und nach auch andere Menschen auszusprechen, was sie sehen, und offenbaren damit den ganzen Schwindel.
Die Geschichte bringt mir ins Bewusstsein, wie ich selbst manchmal wegen Konventionen der Gesellschaft schweige oder mich gar an ihren Lügen beteilige. Das Jesuswort aus Mt 18,3 kommt mir in den Sinn. «Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen.» Unseren Gemeinschaften täte diese kindliche Unmittelbarkeit, die oft als Naivität abgetan wird, gewiss gut. Wir würden weniger an vermeintlichen Selbstverständlichkeiten festhalten, würden Ungerechtigkeiten ansprechen und vielleicht sogar beginnen, miteinander eine lebenswertere Welt für alle zu gestalten.
