Wie sich Gott anfühlt

Er hatte sich das ganz anders vorgestellt. Eine neue Stelle mit Leitungsverantwortung. Sinnvolle Projekte. So ein richtiger Neuanfang! Und jetzt dies: Sitzungen am Laufmeter, Berge von Altlasten seines Vorgängers und eine Chefin, die vor allem forderte und wenig unterstützte. Noch nie im Leben hatte er sich so unfrei gefühlt. Der Druck war fast nicht auszuhalten. „Du kriegst ja gar keine Luft mehr,“ sagte er zu sich selbst.

Dann kam der ersehnte Samstag, an dem er mit seiner Kollegin einen Ausflug in den Schwarzwald unternahm. Ein milder, sonniger Frühlingstag. Zwischenhalt in St. Blasien. „Komm, wir schauen uns den Dom an!“ meinte die Kollegin. Sie betraten den Kuppelbau. Und – dann konnte er gar nicht anders: Sein Blick wurde unwillkürlich in die Höhe gezogen. Er sah diese unerhörte Kuppel, diese schier unermessliche Weite des Raumes.

Jetzt leuchtete die Sonne direkt durch die grossen Fenster und liess die gesamte Kirche in hellstem Weiss erstrahlen. Dazu eine totale Stille. Und er atmete diese Stille und Weite und dieses Licht. Und es wurde weit in ihm. Er spürte: So muss sich Leben anfühlen! Und wenn es nicht so ist, dann musst du etwas ändern.

Sie blieben noch einen Moment, dann fuhren sie weiter.

Es dauerte ein paar Monate, bis er die Stelle kündigte. Aber er wusste genau, wann und wo er zum ersten Mal gemerkt hatte, dass er so nicht leben wollte.

„Seither kann ich gut beschreiben, wie sich Gott für mich anfühlt,“ sagt er, „wie ein hoher, weiter und unglaublich heller Raum, in dem ich tief durchatmen kann.“

Foto: Dom St. Blasien, Innenansicht,Wladyslaw Sojka, 2007. Quelle: Wikimedia Commons