Wie tot ist Nahtod?

Immer wieder kommt es vor, dass Menschen mir von sogenannten Nahtoderfahrungen erzählen.

Ungeheuer bewegt schildern sie z.B., wie sie sich selbst während einer Operation oder nach einem schweren Unfall plötzlich von oben auf dem Operationstisch oder auf der Strasse liegend sehen konnten. Wie sie durch einen dunklen Tunnel zu einem hellen Licht gelangten, dort nahen Menschen begegneten, die schon lange verstorben waren, und wie tiefer Friede und unbeschreibliches Glück von ihnen Besitz ergriff.

In Diskussionen um Nahtoderfahrungen werden solche Erlebnisse zuweilen als Beleg für ein Leben nach dem Tod ins Feld geführt. Es gebe dieses also wirklich, und es sei friedlich und schön.

Aber: Wie tot ist Nahtod eigentlich?

Wenn man sich ein paar Fachartikel zum Thema zu Gemüte führt, merkt man, dass die Erfahrungen durchaus auch anders erklärt werden; nämlich als neuropsychologische Phänomene. Mit anderen Worten: Unser Hirn produziert sie. So wie es Träume oder Halluzinationen produziert. Nahtoderfahrungen können als bestimmte Arten von Bewusstseins-erweiterung verstanden werden.

In jedem Fall ist zu sagen: Diese Erfahrungen sind LEBENSerfahrungen im Umfeld des Sterbens. Wer immer sie macht, ist dann, wenn er sie macht, nicht tot. Sonst könnte er oder sie ja nicht ins Normalbewusstsein zurückkehren. Die Erlebnisse sagen uns etwas über den äusserst lebendigen Prozess des Sterbens. Nicht aber über den Tod.

Ihr Trost ist dennoch stark: Sterben ist vermutlich nichts Schlimmes, sondern – zumindest in vielen Fällen – ein intensiver und schöner Übergang.

Über den Tod reden wir besser vom Glauben her. Und der sagt: Auch der Tod ist nichts Schlimmes.

Abb: Hieronymus Bosch, Visionen des Jenseits: Aufstieg der Seligen, zwischen 1505 und 1515, Galleria dell’Accademia, Venedig