Wir Gefangenen
Denkt an die Gefangenen, weil auch ihr Gefangene seid; denkt an die Misshandelten, weil auch ihr Verletzliche seid.

Ein starker Satz! Er findet sich im 13. Kapitel des biblischen Hebräerbriefes. Ja, verletzlich sind wir alle. Und Gefangene? Allerdings: In schalen Gewohnheiten, in unglücklichen Lieben, in unrealistischen Erwartungen, in Ängsten, in Lebensmustern, die wir in unserer Lebensgeschichte erworben haben und von denen wir uns kaum lösen können. Und oft halten wir uns hinter Fassaden selbst gefangen, genau weil wir Verletzte und deshalb Verletzliche sind. Weil wir in unserer Kindheit so schwer verletzt wurden, dass Nähe und starke Gefühle zur Bedrohung werden können. Lieber sperren wir uns in einen Panzer der Oberflächlichkeit oder der Pflichterfüllung ein.
Die Grade der menschlichen Gefangenschaften und Verletzungen sind unterschiedlich, und selbstverständlich ist es nicht dasselbe, ob ich in einem Gefängnis misshandelt werde, oder ob sich mein ansonsten geregelter Alltag leer und eng anfühlt. Der biblische Text behauptet, dass wir trotzdem alle im gleichen Boot sitzen: Menschsein bedeutet, verletzbar zu sein und Begrenzung zu erfahren. Und der Text fordert aus dieser Grunderfahrung zur Solidarität auf: Gefangene nicht zu vergessen oder auszuschliessen, weil man selbst vermeintlich besser ist. Misshandlungen nicht peinlich zu verschweigen, sondern den Schmerz über die Verwundungen bei sich und bei andern zuzulassen.
«Boden unter den Füssen hat keiner» lautet der Titel eines Buches über solidarische Diakonie. Eben!
Abb: Auguste Rodin, Der Denker, 1880 – 82, Musée Rodin, Paris. Foto: pixabay