Worte beim Sterben
«Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt…»
Fast versteht man es nicht, was die hochbetagte Frau auf dem Sterbebett flüstert. Aber wirklich: Es ist das bekannte Kirchenlied von Paul Gerhardt aus dem 17. Jahrhundert.
Sie hat es wohl – wie damals üblich – als Jugendliche im Konfirmand:innenunterricht auswendig gelernt. Und vermutlich war es mehr ein Müssen als ein Wollen. Wie oft hat sie den Text dabei wohl verflucht?
Natürlich kann ich aus heutiger Sicht über solche Glaubenspädagogik spotten und das Auswendiglernen für veraltet und unnötig erklären. Schliesslich geht es doch im Glauben nicht nur um Inhalte, die ich runterrattern können muss, sondern um Erfahrungen, Erleben und innere Haltungen.
Das Beispiel der sterbenden Frau zeigt mir jedoch, dass dies kein Widerspruch sein muss. In den alten Worten und in der damit verbundenen Musik, die für sie sicherlich mitschwingt, steckt eine Kraft. Längst ist das Lied für die Frau mit Lebenserfahrung verbunden: Taufen von Kindern, Hochzeiten, Beerdigungen geliebter Angehöriger. Es sind nicht mehr die auswendig gelernten und damals vielleicht sinnleeren Worte, sondern es ist eine Atmosphäre von Vertrautheit und Feierlichkeit, eine Ahnung des Heiligen, die sich mit ihnen verbunden hat. Jetzt, am Rand des Lebens, schenken sie Geborgenheit und helfen gegen die Angst.
Das ist die Kraft solcher Texte und Lieder: Sie schaffen Geborgenheitsräume.
Abb: Paul Gerhardts Lied Befiehl du deine Wege, Druckfassung 1676. Beilage 68f der 34 Lieferung der Illustrierten Geschichte der deutschen Literatur. Quelle: Wikimedia Commons.