Zauber

Ein frommer Zauber hält mich wieder,
Anbetend, staunend muss ich stehn:
Es sinkt auf meine Augenlider
Ein gold’ner Kindertraum hernieder.
Ich fühl’s – ein Wunder ist geschehn.

Theodor Storm

Im letzten Jahr habe ich mir an vielen Abenden im Advent in unserem Wohnzimmer Kerzen angezündet und gebacken. Ich habe mich an den langen Tisch gesetzt, in Ruhe den gekühlten Teig ausgerollt und Plätzchen ausgestochen. Oft saß ich bis in die Nacht hinein, meine Familie hat längst geschlafen. Ich musste nicht zur Arbeit und so wurden die langen Abende meine persönliche Adventszeit. Ich habe nebenbei leise Weihnachtslieder laufen lassen und Weihnachtsgeschichten angehört. 

Bild von form auf PxHere

Ich habe gebacken und gebacken, vor allem eine Sorte, immer nach meinem alten, wunderbaren Familienrezept. Wenige Tage vor Weihnachten bin ich in einem Youtubefilm auf eine Variante meines Weihnachtsgebäcks gestoßen, die in einigen Alpenregionen üblich ist. Ich habe gezögert. Die Variante hat von mir verlangt, dass ich eine Zutat ändere – die Hauptzutat. Ich hatte schon viele Blechdosen mit meinen Plätzchen gefüllt und habe mir dann gedacht: «Warum nicht?» Wieder habe ich Teig ausgerollt und ausgestochen und dann gebacken. Ein unbekannter Duft zog abends durch das Wohnzimmer. Puderzucker nach dem Backen, einen Moment warten, dann am Tisch vor dem noch warmen Blech habe ich mir ein – ich sag nicht, was es war – genommen und hineingebissen. Dann, andere Worte beschreiben es nicht, ging der Himmel auf. Wie konnte etwas so unglaublich, so unfassbar und wunderbar gut schmecken? Die Weihnachtsmusik im Hintergrund wurde zu Engelsmusik, das Weihnachten der Kindheit war für einen traumgleichen Moment zurück. Die Erfahrung war so unwirklich wie real und möglich, weil ich einen ausgetretenen Weg verlassen habe.