Zeitgemäße Ansprache

Quelle: pexels
Wie kommt es nur, dass wir noch lachen,
Dass uns noch freuen Brot und Wein,
Dass wir die Nächte nicht durchwachen
Verfolgt von tausend Hilfeschrein.

Habt ihr die Zeitung nicht gelesen,
Saht ihr des Grauens Abbild nicht?
Wer kann, als wäre nichts gewesen
In Frieden nachgehn seiner Pflicht?

Klopft nicht der Schrecken an das Fenster,
Rast nicht der Wahnsinn durch die Welt,
Siehst du nicht stündlich die Gespenster
Vom blutdurchtränkten Trümmerfeld -?

Des Tags, im wohldurchheizten Raume:
Ein frierend Kind aus Hungerland,
des Nachts, im atemlosen Traume:
Ein Antlitz, das du einst gekannt.

Wie kommt es nur, dass du am Morgen
Dies alles abtust wie ein Kleid
Und wieder trägst die kleinen Sorgen
Die kleinen Freuden, tagbereit.

Die Klugen lächeln leicht ironisch:
Ça c`est la vie. Des Lebens Sinn.
Denn ihre Sorge heisst, lakonisch:
Wo gehen wir heute Abend hin?

Und nur der Toren Herz wird weise:
Sieh, auch der grosse Mensch ist klein.
Ihr lauten Lärmer, leise, leise,
Und lasst uns sehr bescheiden sein.

aus: Mascha Kaléko: In meinen Träumen läutet es Sturm, © 1977 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München Nutzung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des dtv Verlags, Bücher | dtv Verlag