Zukunft
Als die Arabischübersetzerin in unserem Ort mich vor ein paar Monaten angerufen und mir gesagt hat, dass sie für einen Sechstklässler aus Syrien eine Nachhilfelehrerin sucht, damit der Junge in der Schule mitkommt, habe ich innerlich geseufzt. Ich habe es zu oft erlebt, dass Erwachsene Kinder in die Nachhilfestunde geschickt haben und die Kinder dann lustlos neben mir sassen. Sie hat mein Zögern wohl gemerkt und nachgeschickt, dass er aus einer sehr netten Familie komme, die sicher sehr dankbar wäre.
Nun kommt Abdul seit ein paar Monaten zu mir. Wir lesen Bücher und er kämpft sich durch die Zeilen. Er schreibt die neuen Wörter auf und stellt mir lauter Fragen zu den Dingen, die wir lesen. Er will möglichst viel von unserer Kultur wissen, aber auch von der Religion hier. Inzwischen ist mit Samira noch ein zwölfjähriges syrisches Mädchen dazugekommen. Wir stellen Dezimalzahlen auf dem Zahlenstrahl dar, wandeln gemischte Brüche in Brüche um.
Die Kinder sind unermüdlich dabei. Selbst während der Ferien wollen sie weiterarbeiten.
Einmal haben sie von der Schule im Flüchtlingslager im Libanon erzählt, wo der Lehrer wegen kleiner Dinge mit dem Lineal auf die Hände geschlagen hat und wo sie nie richtig Mathematik gelernt haben und das nun nachholen müssen.
Vielleicht sind es diese Erfahrungen, die sie so hingebungsvoll und voll Freude lernen lassen. Diese Kinder wissen, dass es ein Privileg ist, dass es eine Schule gibt, in der man gut zu ihnen ist, eine Schule, in der sie viele verschiedene Dinge lernen und dass es an ihnen liegt, dass sie sich mit Fleiss eine Zukunft erschaffen können.
Bald ist Zukunftstag und ich frage Abdul, ob er weiss, was er werden will.Mein Vater will, dass ich Arzt werde, aber das schaffe ich nicht, aber Tramfahrer. Und seine Augen leuchten. Dürfen wir morgen wiederkommen, fragen die Kinder oder wenigstens übermorgen. Es geht mir auf, dass die beiden wunderbaren Zuwandererkinder die Zukunft dieses Landes mitgestalten werden.