Der Rabbi und ich
Man hatte mir gesagt, ich solle mir keine Hoffnung machen, der Rabbi werde sich gewiss nicht um eine Frau kümmern, die nicht zum Volk Israel gehöre. Aber das war mir egal. Ich wollte nur eins: Dass Channa wieder meine vertraute, liebe Tochter werden würde. Dass diese furchtbare Angst vor den Stimmen des Dämonen ein Ende finden würde.
Also lief ich hinter dem Rabbi her und rief: „Hab Erbarmen mit mir, Herr, Sohn Davids! Meine Tochter wird von einem Dämon furchtbar gequält.“
Er ignorierte mich. Ich schrie weiter, so lange, bis seine Freunde ihn baten, er solle sich endlich um mich kümmern.
Dass er nicht mit mir, sondern mit ihnen sprach, machte mich wütend. Er meinte, er sei nur für das Haus Israel zuständig, also nicht für uns Kanaaniter.
Und das sollte nun der grosse Lehrer der Liebe Jahwes sein, der voller Erbarmen Kranke heilte? Der hatte sich aber in mir getäuscht! Ich warf mich vor ihm nieder: „Herr, hilf mir!“ Als er antwortete „Es ist nicht recht, den Kindern das Brot wegzunehmen und es den Hunden hinzuwerfen“, schluckte ich leer. „Hunde“? Hatte er das tatsächlich gesagt? Und ich lag auch noch wie eine Hündin vor ihm im Dreck. Aber dann kam mir dieser Satz. Noch heute bin ich stolz auf ihn. „Stimmt, denn die Hunde fressen ja ohnehin von den Brotbrocken, die vom Tisch ihrer Herren fallen.“ Er sah mich fassungslos an. Sagte nichts. Aber dann: „Frau, dein Glaube ist gross! Dir geschehe, wie du willst.“ Damit drehte er sich um und ging.
Hatte er das nur gesagt, um mich loszuwerden? Ich zweifelte. Aber als ich heimkam und meinen Mann lachen und singen hörte, wusste ich, dass Channa geheilt war. Sie sass einfach da und schüttelte den Kopf: „Er ist weg, Mutter. Ich höre ihn nicht mehr. Der Dämon ist weg.“
Ob dieser seltsame, schroffe Mann wirklich der Sohn Gottes ist, wie einige sagen?
(Der Text bezieht sich auf die Erzählung im Matthäus-Evangelium, Kapitel 15, Verse 21 – 28)
Abb: Jean-Germain Drouais, Die Frau von Kanaan zu Füssen von Christus, 1784, Musée du Louvre, Paris. Wikimedia Commons