Fülle

Ein Satz aus der Bibel hat mich stets besonders provoziert. Er lautet: «Wer hat, dem wird gegeben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat.» (Mk 4,25) Eigentlich beschreibt er realistisch und ungeschminkt, wie es oft läuft: dass die Besitzenden immer reicher werden, während die Menschen am unteren Rand trotz ihrer Anstrengungen kaum mehr auf einen grünen Zweig kommen. Es ist eine der grossen Ungerechtigkeiten, welche unsere Zivilisation allem Fortschritt zum Trotz bis jetzt nicht aus der Welt schaffen konnte.

Bild von Henning Westerkamp auf Pixabay
Bild von Henning Westerkamp auf Pixabay

Hinter dem provokanten Satz könnte sich noch eine weitere Bedeutung verbergen. Wer nämlich – anstatt zu sehen, was er schon hat – seine Aufmerksamkeit vor allem auf den Mangel und das Schlechte richtet, dem werden die positiven Dinge des Lebens zunehmend aus dem Blick geraten und zwischen den Fingern zerrinnen.

Im empfehlenswerten Büchlein «ABC des guten Lebens» beleuchten neun Autorinnen Begriffe für ein postpatriarchales Zusammenleben. Unter dem Stichwort «Fülle» geben sie zu unserem Thema einen bedenkenswerten Hinweis:

«Ein wichtiger Schritt zu einem guten Leben ist der, den Blick auf die in Wirklichkeit vorhandene Fülle zu richten: die Fülle, die die Erde schenkt, die Fülle an Möglichkeiten für jedes Leben, die Fülle an Beziehungsmöglichkeiten, die Fülle, die aus der Differenz hervorgeht, die Fülle an Erfahrungen und Dingen, die die Menschen, die früher lebten, weitergegeben haben, die Fülle an Gaben, die die meisten Menschen täglich erhalten.»

Hier klingt eine zentrale Verheissung Jesu an: «Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.» (Joh 10,10b) Sie ist Zuspruch und Aufforderung: aus dem Vertrauen auf die Fülle Gottes zu leben, nicht aus Angst vor Mangel, und sich einzusetzen für eine Kultur des Genug, ein Stichwort, das im «ABC des guten Lebens» ebenfalls zu finden ist.