Ein anderer Raum
“Im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.“
Die Besinnungen und das Abendgebet in der Bahnhofkirche beginne ich jeweils mit dieser Formel. Mit dem Fachbegriff bezeichnet man sie als „Invocatio“, was „Anrufung“ bedeutet. Gott wird angerufen. Und so ist es ja eigentlich in jedem christlichen Gottesdienst. Damit will man zum Ausdruck bringen, in wessen Namen die Feier stattfindet.
Im Verlaufe der Jahre ist mir die Invocatio wichtiger geworden. Vielleicht, weil gleichzeitig mein Glaube immer alltäglicher und nüchterner geworden ist und ich mich viel mit pragmatischen Dingen des Lebens beschäftige.
Da tut es mir gut, zu Beginn einer Besinnung einen Wechsel zu markieren. Was wir jetzt tun, soll eine andere Qualität haben! Wir betreten einen anderen inneren Raum: den des unverfügbaren, unfassbaren Göttlichen.
Kürzlich habe ich eine Videoarbeit einer südkoreanischen Künstlerin gesehen, die den Titel „Invocation“ trug (Jane Jin Kaisen, Invocation, 2019, 4-Kanal-Video). Es zeigte eine Frau in der Natur, die – einem religiösen Ritual ähnlich – sich mit ausgebreiteten Armen um die eigene Achse dreht. Zuerst hält sie dabei offensichtlich eine nach unten gerichtete Kamera in den Händen, die sie dann loslässt. Die Kamera – wohl an einem Ballon hängend – schwebt in den Himmel und filmt dabei die immer kleiner werdende, sich drehende Frau, bis man diese nicht mehr erkennt; dafür aber die weite Landschaft.
„Genau!“ habe ich beim Betrachten gedacht. „Darum geht es bei einer Invocatio: Mir bewusst machen, dass ich selbst ein verschwindend kleines Etwas bin, angesichts der Grösse und Weite des Ewigen. Und in diesem Bewusstsein feiern und beten.“
Abb: Ostfriesische Landschaft bei Minsen, 2020. Foto: Rhetos. Wikimedia Commons