Ein Mensch
Eine einsame, verlorene Gestalt an der Kante einer Mauer. Sie steht nicht irgendwo, sondern mitten im Zentrum Londons. Und zwar auf einem leeren Denkmalsockel des belebten Trafalgar Squares.
Die Gestalt ist fast nackt. Und trägt sie nicht eine Krone? Nein, das ist vergoldeter Stacheldraht.
„Ecce Homo“ ist der Titel dieser Skulptur, zu Deutsch: „Da ist der – oder ein – Mensch“.
Dabei handelt es sich um ein Zitat aus der Passionserzählung des Johannesevangeliums. Jesus ist verhaftet und dem römischen Statthalter Pilatus vorgeführt worden. Dieser hat ihn misshandeln und auspeitschen lassen. Nun wird er – aus Spott mit einer Dornenkrone gekrönt – dem Volk vorgeführt, begleitet von eben diesen Worten des Pilatus: „Da ist der Mensch.“ Kurze Zeit später wird er gekreuzigt. Karfreitag!
Der Künstler Mark Wallinger hat die Figur zur Jahrtausendwende 1999/2000 extra für diesen leeren Denkmalsockel geschaffen. Unter anderem wollte er die britische Öffentlichkeit mit einem Fundament ihrer Geschichte und Kultur konfrontieren, denn mit der Jahrtausendwende wurde das Christentum 2000 Jahre alt! „Wer ist dieser Christus heute für uns?“ fragte Wallinger. „Wie urteilen wir – als multi- und transkulturelle Öffentlichkeit – über ihn, den Mann, auf den sich die Religion beruft, die unsere Geschichte so geformt und geprägt hat?“
Mich spricht die Skulptur an, weil sie so wenig Ähnlichkeit mit den klassischen Ecce Homo – Darstellungen der Kunstgeschichte hat. Man könnte sie durchaus für einen politischen Häftling unserer Zeit irgendwo auf der Welt halten.
Ecce Homo: Da ist ein Mensch!
In jedem, der ausgesetzt, misshandelt und blossgestellt wird, ist Christus wieder gegenwärtig. Das ist und bleibt Grundsatz dieser Religion.
Abb: Mark Wallinger, Ecce Homo, 1999 – 2000, White marbleised resin, gold-plated barbed wire, Life size, Installation view, Trafalgar Square, London/UK, 1999 -2000 © Mark Wallinger, Courtesy the artist and Hauser & Wirth