Engelseinbruch

Der weltberühmte Isenheimer Altar in Colmar zeigt unter anderem die biblische Szene, in der Maria durch den Engel Gabriel verkündet wird, der Heilige Geist werde über sie kommen, sie werde schwanger werden und einen Sohn gebären. Dieser werde heilig sein und Sohn Gottes genannt werden.

Aber was für eine Darstellung das ist!
Dieser Engel scheint von rechts hineingestürmt zu kommen. Wild wehen sein Gewand und seine Haare. Sein Blick ist entschlossen, beinahe streng, und zusammen mit den Maria entgegengestreckten Fingern wirkt es fast so, als wolle er die Frau hypnotisieren.

Die schient von dem Ereignis wie überfahren zu werden. Sie weicht mit dem Oberkörper zurück und wendet ihr Gesicht ab. Ihr Gesichtsausdruck: Missbilligung? Angst? Gar Abscheu? Man erhält den Eindruck, hier werde jemand überfallen, nicht besucht.

Es ist, als ob der Maler des Altars – Matthias Grünewald – schon alles mit ins Bild hineinnimmt, was Maria als Folge dieser Begegnung erleben wird: die totale Umwälzung ihres Lebens mit der Geburt im Stall, der Flucht nach Ägypten, der Überforderung mit einem Sohn, den sie nie wirklich verstehen wird, der Menschen sammeln,  begeistern und verändern wird, andere aber auch herausfordert und gegen sich aufbringt. Einem Sohn, den sie grausam sterben sehen und der jenseits aller Vorstellungskraft – als Auferstandener – weiterwirken wird.

Der Einbruch Gottes in die Welt, Gottes Menschwerdung in Jesus, ist eigentlich alles andere als die Idylle, die wir an Weihnachten feiern. Es ist ein Ereignis, das den Glauben herausfordert, manchmal vielleicht auch überfordert: Der Allmächtige wird zur verletzlichen Stallgeburt, zum Flüchtlingskind, zum Hingerichteten. Ein radikales Geschehen!

Abb: Matthias Grünewald, Verkündigung an Maria, Isenheimer Altar, Polyptychon, 1512, Musée Unterlinden, Colmar, Frankreich.