Extrem verletzlich
Ron Mueck ist ein australischer Künstler, der hyperrealistische menschliche Figuren aus Fiberglas und Silikon herstellt. Dabei sind diese immer entweder deutlich grösser oder kleiner als ein lebender Mensch. Und es sind keine Promis, sondern Menschen wie du und ich.
In einem Kunstmuseum habe ich eines seiner bekanntesten Werke erlebt: „Dead Dad“ (Toter Vater; 1996/97).
Es stellt den nackten Leichnam von Muecks Vater dar. Absolut naturgetreu, aber nur 102 cm gross.
Die Skulptur war auf einem grossflächigen, ca. 50cm hohen Sockel in einem völlig leeren Raum ausgestellt.
Wenn man diesen Raum betrat, überkam einen eine andächtige Stille. Und obwohl es sich um eine kleine Figur in einem grossen Raum handelte, entfaltete der reglose Körper eine ungeheure Präsenz. Dies lag wesentlich an der ungeschönten Ehrlichkeit des Werkes: Ein älterer, bleicher und schmächtiger Körper. Rötliche Ringe um die Augen, faltige Haut. Extrem verletzlich wirkte die Figur. Sie erbarmte einen.
Hinter all unseren Fassaden und hinter den Rollen, die wir im Leben spielen, sind wir so: hinfällige Wesen, denen auf wundersame Weise ein paar Jahre auf diesem Planeten vergönnt sind. Und gleichzeitig: Wie grossartig ist es, diese Jahre leben zu können! Und was steckt alles in uns, dass wir trotzdem so viel erreichen. Wie schöpferisch und erfinderisch sind wir!
„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“ fragt ein Psalmendichter in der Bibel (Psalm 8,5). Bei ihm wird das Staunen über den Menschen zu einem Staunen über Gott, dem der Mensch sich erst verdankt.
Abb: Ron Mueck, Dead Dad, 1996–97, Mixed media, Installationsansicht Musée des beaux-arts de Montréal, Kanada, 2023. Foto: Privat. Mit freundlicher Genehmigung: Thaddaeus Ropac Gallery, London.