Ganz Ohr sein
«Ich bin ganz Ohr.» Manchmal sage ich diesen Satz am Anfang eines Gesprächs. Das bedeutet für mich, dass ich der Person, die mir in diesem Augenblick gegenübersitzt, für eine Weile meine ganze Aufmerksamkeit schenken möchte. Es bedeutet, dass ich versuche, gut hinzuhören und zu verstehen.
Richtig gut hingehört hat – nach kirchlicher Zeitrechnung – heute vor 2025 Jahren eine junge Frau, die in einem kleinen Dorf in Galiläa lebte. Es war Maria aus Nazareth, der von einem Engel verkündet wurde, dass sie schwanger werden und einen Sohn gebären würde. Eigentlich total verrückt, einem Engel mit dieser Nachricht gegenüberzustehen. Maria aber war ganz Ohr und vertraute der Botschaft, die ihr der Engel brachte. Letzte Zweifel nahm ihr der himmlische Bote: «Für Gott ist nichts unmöglich.» (Lk 1,37)
Diese biblische Szene nahm ein Künstler zum Anlass, ein ausgefallenes Bildnis von Maria herzstellen. Es ist heute in der Basilika im deutschen Weingarten zu bestaunen. Maria ist darauf abgebildet mit einem auffallend grossen Ohr, das von ihren Haaren umspielt wird. «Maria die Hörende» heisst dieses Werk. Ich finde es sehr schön, dass die Mutter Jesu eine gute Zuhörerin war. Ganz bestimmt nicht nur für himmlische Botschaften, sondern auch für menschliche Angelegenheiten.
Einander gut zuzuhören ist gar nicht so einfach, sondern vielmehr ein hochkomplexer psychologischer Prozess, der viel Konzentration abverlangt. In unserer reizüberfluteten Welt ist das manchmal gar nicht so einfach. Ganz Ohr für einen anderen Menschen zu sein ist deshalb ein grosses Geschenk, das wir einander immer wieder machen können.