Leihworte

«Wird Gott auf ewig verstossen und nie mehr gnädig sein? Hat seine Güte für immer ein Ende, ist sein Wort verstummt für alle Zeit? Hat Gott seine Gnade vergessen, hat er im Zorn sein Erbarmen verschlossen?
Und ich sprach: Das ist mein Schmerz, dass so anders geworden ist das Handeln des Höchsten.»

Psalm 77, Verse 8 – 11

Der Sohn, Bruder, Enkel und Neffe hat seinem Leben ein Ende gesetzt. Da ist tiefes Entsetzen und unendlicher Schmerz. Man wusste, dass es ihm schlecht geht, sehr schlecht. Aber man hat nicht damit gerechnet, dass es so weit kommen könnte. Wie kann man seinem Schmerz Ausdruck verleihen? Den Angehörigen hat es die Sprache verschlagen.

Für die Todesanzeige wählen sie Ausschnitte aus dem oben zitierten Psalm.
Fremde Worte aus ferner Zeit sind das. Leihworte. Worte, mit denen schon unzählige Menschen gebetet, gehadert, gezweifelt haben. Gefässe für Schmerz, für Fassungslosigkeit und Wut.

Texte der Bibel, Gedichte, Strophen von Liedern können helfen, nicht zu verstummen, nicht selbst innerlich tot zu werden, wenn es uns die Stimme raubt. Wenn Flucht uns die Heimat nimmt und es kein Zurück mehr gibt. Wenn der Tod uns die Liebsten nimmt.
Dann sind solche Leihworte manchmal Widerstandsparolen gegen den Tod, sind trotzige Lebenszeichen. Auch wenn sie Gottes Zuwendung infrage stellen.
Denn auch dies gehört zur jahrhundertealten Glaubenstradition, dass Gott immer wieder frag-würdig wird und seine/ihre Selbstverständlichkeit verliert.

Abb: Edvard Munch, Der Schrei, 1910, Munch-Museum Oslo, Norwegen. Quelle: www.wikipedia.org