…wird dies mein Auge Gott doch sehn
November, und sie war alleine auf Rhodos. Sie hatte dringend eine Auszeit gebraucht. Die Trennung von ihrem Mann, der Auszug in eine kleine Wohnung, dazu die viele Arbeit. Das war zu viel gewesen. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie allein in den Ferien.
Jetzt sass sie an diesem endlos langen Strand, nirgends jemand zu sehen. Vor ihr das Meer, die Wellen, die in regelmässigem Rhythmus auf sie zurollten und im Sand ausliefen.
Sie hatte den Kopfhörer aufgesetzt und hörte den Messias von Händel.
„Ich weiss, dass mein Erlöser lebet…“, sang eine Frau. So innig, so feierlich klang das in ihren Ohren. Und sie hörte und schaute über den Strand und die Weite des Meers und – musste weinen. Aber das war kein verzweifeltes Weinen. Es war voller Trost.
Die Trennung war schwierig gewesen. Manchmal hielt sie das Alleinsein fast nicht aus, und dennoch war es richtig so.
Warum tröstete diese Musik sie? Sie war ja nicht besonders gläubig.
Sie hörte genauer auf den Text. „Ich weiss, dass mein Erlöser lebet, und dass er erscheint am letzten Tage… Wenn Verwesung mir gleich drohet, wird dies mein Auge Gott doch sehn.“
Nichts davon hätte sie eins zu eins unterschreiben können. Zu viele Zweifel hatte sie diesen Aussagen gegenüber. Der Trost dieses Liedes lag nicht im Text. Er lag in der Musik! Im bewegten Auf und Ab der Melodie, in der intensiven Gewissheit, die da zum Ausdruck kam. Und sie begriff, dass es hier nicht um die Wahrheit einzelner Aussagen ging, sondern um die Zuversicht, die vermittelt wurde: Dass es in aller Brüchigkeit ihrer Existenz, in aller Trauer etwas Unverbrüchliches gab, das trug. Etwas, das sie viel mehr spürte, als verstand und das Händel und die Menschen, die die Worte geschrieben hatten, auch so gespürt haben mussten. Etwas, das diese fernen Menschen „Gott“ nannten und sie selbst nicht so nennen konnte.
„Ich bin ja glücklich. Jetzt gerade bin ich trotz allem tief glücklich!“ stellte sie fest.
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